Monster
“Alles gut”, sagte Katrin, obwohl nichts gut war. Gar nichts. “Jetzt beruhigen wir uns beide erst einmal. Ich bin für dich da. Sag mir, was das Problem ist, und wir finden gemeinsam eine Lösung. Alles wird gut.”
Aber die Sätze, die sonst bei ihren Kindergartenkindern immer so gut wirkten, gingen in dem furchterregenden, langgezogenen Knurren unter, das von den Höhlenwänden widerhallte. Also verstummte sie und wartete auf eine Lücke im Knurren. Sie würde ihn nicht anschreien. Geduldig holte sie Luft und versuchte es, in der winzigen Stille noch einmal.
“Nicholas, ich will dir helfen. Ich -”
Wieder begann er zu knurren. Als hätte er keines ihrer Worte verstanden.
War das möglich? Konnte sich mit der Form seiner Ohren auch seine Fähigkeit, ihre Sprache zu verstehen – oder zu sprechen – verändert haben?
Wenn ja, dann würde alles Reden nichts nutzen – womöglich nahm er das nur als Knurren ihrerseits wahr. Aber wie konnte sie ihn dann dazu bringen, sich zu beruhigen? Katrin beobachtete, wie sich Nicholas immer und immer wieder gegen seine Ketten warf, seine ganze Wut und Aufmerksamkeit auf sie, den Eindringling gerichtet. Das Herz blutete ihr bei diesem Anblick. Und wenn er so weitermachte, dann würde ihm bald die Handgelenke bluten. So ging das nicht weiter. Wenn sie schon nicht mit ihm reden konnte, dann würde sie ihm zeigen müssen, dass sie ihm nichts böses wollte.
Warum, verdammt, hatten sie diese dumme Übersetzung noch nicht bekommen?
Entgegen allem, was ihr die Instinkte zuschrien, setzte sich Katrin in Bewegung und näherte sich dem Wildgewordenen. Ganz langsam. Wie vorher durch den Tiefschnee, so kostete sie auch jetzt jeder Schritt unglaubliche Überwindung. Denn natürlich wurde er zunächst nicht ruhiger, sondern raste nur um so mehr.
Ganz ruhig. Alles wird gut.
Jetzt war sie selbst es, der sie dieses Mantra aufsagen musste. Noch drei Meter. Zwei. Eine Armlänge. Noch nie war ihr so deutlich bewusst gewesen wie groß Nicholas im Vergleich zu ihr war. Wie kräftig. Sie musste verrückt sein.
Auch die Hand streckte sie ganz langsam aus. Nicholas kämpfte gegen die schweren Ketten, die seine Arme zurückhielten, und versuchte stattdessen mit dem Kiefer nach ihr zu schnappen. Zu schnappen. Wie ein Tier. Katrins Atem ging flach. Trotzdem schob sie Zentimeter für Zentimeter ihre Finger vor. Sie wagte nicht, sich vorzustellen, was es bedeuten würde, wenn die Zähne des Krampus’ sie tatsächlich erreichten. Wenn diese Kiefer…
Nicholas. Es war immer noch Nicholas.
In dem Moment, in dem er erneut nach ihr zielte, drehte sie die Hand und legte sie ihm an die Wange.
Er erstarrte. Gelbe Augen fixierten sie.
Sie bewegte die Finger, vorsichtig. Das Fell war rau unter ihren Fingerspitzen. Und er schnaufte noch immer – ob vor Wut oder Angst vermochte sie nicht zu sagen. Aber irgendetwas in ihm, schien noch Nicholas genug zu sein, um diese Berührung als eine ungefährliche wiederzuerkennen.
Und wenn der Weg zu seiner Erlösung damit zusammenhing? Wenn sie ihn ganz ans Menschsein erinnern musste? War es nicht auch das Wundermittel in sämtlichen Märchen? …und wenn das hier keine wahrgewordene Sagengestalt war, was dann?
Ein unangebracht aufgeregtes Prickeln stieg in ihr auf, trieb ihr das Herzklopfen in die Kehle und das Blut in die Wangen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Einfach so. Auf den Mund.
Eine nervöse Sekunde lang passierte nichts.
Dann kam wieder Bewegung in den Krampus und er schüttelte sie ab. Nicht absichtlich. Er zog und zerrte lediglich wieder mit aller Kraft an seinen Ketten und brüllte auf, als er feststellte, dass sie sich nicht bewegten.
Und er besaß immer noch Hufe, Krallen und Hörner wie zuvor.
“Verdammt, Nicholas! Was soll ich denn noch tun?” Plötzlich war die Angst wieder mit voller Wucht da, schnürte ihr den Hals zu. “Du könntest mir ja auch mal nachdenken helfen, anstatt mich nur anzuknurren! Oder wenigstens stillstehen, verflucht! So machst du doch alles nur noch schlimmer!” Aufgewühlt drehte sie sich fort und begann, in der Höhle auf- und abzulaufen. “Es muss einfach einen Ausweg geben! Es muss einfach! Und ich werde dich nicht im Stich lassen – da kannst du mich noch so bedrohlich anknurren! Hast du gehört, du Fellschädel?”
Doch genauso gut hätte sie mit der Höhlenwand reden können. Er war wieder ganz das beißwütige Monster geworden, dass allein durch die Ketten daran gehindert wurde, sich auf sie zu stürzen.
“Hörst du mir überhaupt zu, verdammt?!” Aufgebracht bückte sich Katrin nach dem hereingewehten Schnee zu ihren Füßen und warf ihn Nicholas an den Kopf. Er zuckte zusammen, schüttelte sich wie ein Hund und machte dann weiter wie zuvor. Manisch.
“Ach, verflucht!” Was tat sie hier? Sie konnte doch sehen, dass ihre Anwesenheit ihm mehr schadete, als half! Meine Güte, hatte sie sich nicht geschworen, nicht zu schreien? Was war es dann, was sie gerade machte? Hatte sie ihn ernsthaft beworfen?
“Ich bin dir keine gute Gesellschaft, oder? Jetzt nicht… Aber vermutlich war ich das auch zuvor nicht. Ich meine, was habe ich denn schon für dich getan? Konnte ich dir auch nur in einem Punkt helfen? Du warst doch derjenige, der mich immerzu beschenkt hat – indem du mir das Dorf gezeigt hast. Und eure Bibliothek. Die Rentiere! Aber ich? Ich habe nur alles durcheinandergebracht. Dein Bruder hatte Recht, ich hätte nie in euer Dorf kommen dürfen. Wäre ich nicht gewesen, hättest du mich auch nicht vor dem Krampus schützen müssen. Und ohne den getöteten Krampus wärst du nie… ”
Ein weiteres Mal warf sich Nicholas grollend gegen die Ketten. Die Haut an seinen Handgelenken war inzwischen schon beinahe fellfrei – abgescheuert, nicht erlöst.
“Was habe ich nur getan?” Katrin würgte an dem Kloß in ihrem Hals, kämpfte gegen das Brennen in ihren Augen. Und fand sich plötzlich auf den Knien wieder, direkt vor Nicholas und doch so unendlich weit weg, und die Schluchzer rollten nur so über sie hinweg, schüttelten sie, bis sie selbst kaum noch Luft bekam. Die ganze Welt war verschwommen, nichts mehr übrig außer dem Eingeständnis ihrer Hilflosigkeit.
Es dauerte eine Ewigkeit, ehe sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Als sie sich auf die Lippen biss und beschloss, dass sie ebenso gut gehen und wenigstens Nicholas seine ungestörte Einsamkeit wiedergeben konnte. Schuldbewusst hob sie den Kopf, um ihn anzusehen –
Und fand sich erneut zwei goldenen Augen gegenüber.
Er riss nicht an seinen Ketten, er brüllte nicht. Er hatte sich so weit wie möglich zu ihr herabgebeugt und war erneut erstarrt, fixierte sie eindringlich.
Menschlichkeit, begriff Katrin durch den Nebel in ihrem Kopf hindurch. Weinen war auch etwas, was nur Menschen konnten.
Dann, jäh, klirrte es laut und Katrin zuckte zusammen. Die Kette von Nicholas rechtem Arm war erneut straff gespannt. Er zerrte daran. Aber diesmal nur einseitig. Was…
Rechts. Nicholas war Rechtshänder. Er wollte etwas zeigen. Oder berühren?
Unsicher blinzelte Katrin gegen die verbliebenen Tränen an und rutschte ein winziges Stück vor – wenn er jetzt erneut einen Rückfall erlitt…? – und noch ein Stück und noch eines…
Seine Hand zielte auf ihr Gesicht. Erschrocken hielt Katrin die Luft an und schloss instinktiv die Augen.
Doch die Kralle kratzte nur ganz sacht über ihre Haut und war dann wieder fort. Sie öffnete die Augen.
Der Krampus – Nicholas – betrachtete die Träne auf seinem Finger.
Katrin schnappte nach Luft. Finger – keine Kralle! Und noch während sie voller Unglauben darauf starrte, konnte sie sehen, wie das Fell sich, angefangen von dem Finger, immer weiter zurückzog. Auflöste, als wäre es nie dagewesen, nur ein schlimmer Spuk, ein Albtraum, nichts weiter.
Mit einem Aufschrei zwischen Lachen und Weinen sprang sie auf und schlang Nicholas die Arme um den Körper. Erneut strömten die Tränen ohne Halt aus ihr heraus. Unter ihrer Wange schmolz das Fell dahin und wurde zu glatter Haut. “Du bist wieder da”, brachte sie schniefend heraus. “Also war es doch eine Märchenerlösung! Wie konnte ich nur vergessen, dass Tränen auch eine Option sind?”
“Tränen?”
Wie gut es war, seine normale Stimme wieder zu hören! Auch wenn sie vom vielen Brüllen noch etwas rau klang. Ohne ihn loszulassen, lehnte sie sich zurück, um in sein Gesicht sehen zu können. Gerade in dem Moment, als der Zauber sich von seiner Stirn zurückzog und beide Hörner abbrachen und mit einem Klappern zu Boden fielen.
Nicholas blinzelte. “Was -”
Er war nun wieder ganz der Alte. Kein Krampus mehr. Einfach nur Nicholas. Und…
Sie sahen beide gleichzeitig an ihm herab.
“Ähm”, machte Katrin, räusperte sich nervös und trat einen Schritt zurück. “Vielleicht sollten wir dir etwas zum Anziehen beschaffen.”
“Ist ja auch ziemlich kalt”, stimmte Nicholas zu – und sein Tonfall klang dabei schon wieder so unbeschwert und so sehr nach ihm, dass es sie zum Lachen brachte.
“Das ist das einzige, was ich finden konnte.” Katrin hielt Nicholas eine der Decken hin. Sie waren aus Wolle gestrickt und mit Mustern von Schneeflocken und Rentieren versehen.
“Ist das…?”
“Das Werkzeug, mit dem der Krampus aufgetaut wurde? Ich vermute, ja.” Sie drückte es Nicholas mit Nachdruck in die Hand. “Nur angemessen, dass sie jetzt dich auch etwas auftauen, findest du nicht?”
Umständlich versuchte Nicholas, sich in die Wolle zu hüllen – die Ketten kamen ihm immer wieder in den Weg. Notgedrungen sprang ihm Katrin zu Hilfe und kämpfte währenddessen gegen den eigenen hochroten Kopf und das Verlegenheitslachen in ihrem Hals an.
“Du solltest dir auch eine nehmen”, forderte Nicholas sie auf.
Katrin verzog den Mund. “Ich sollte eigentlich durch den ganzen Schnee zurückstapfen und dir echte Kleidung holen. Und mich bei der Gelegenheit gleich deiner ganzen Familie stellen und ihnen beichten, was ich getan habe. Wobei ich dann vermutlich nicht diejenige bin, die dir die Sachen bringt. Vermutlich werden sie mich gleich wieder zurück nach Hause verfrachten.” Je mehr Katrin darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihr das und umso mehr sank ihr Mut. Am Liebsten hätte sie sich in der hintersten Höhlenecke unter den restlichen Decken versteckt, nur um den Reaktionen der anderen zu entgehen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, hierher zu kommen?
“Dann tu es nicht.”
Katrin blinzelte. “Aber -”
“Die Decken werden schon reichen. Außerdem kann ich doch nicht zulassen, dass du meine Familie konfrontierst, ohne mich als Fürsprecher dabeizuhaben. Ich will nicht sagen, dass es ungefährlich oder auch nur ansatzweise vernünftig war, was du getan hast. Aber ohne dich wäre ich weiterhin in einem Zustand, in dem ich nicht einmal wüsste, was Vernunft bedeutet.” Er lächelte – nein, strahlte – sie an, wie er es schon damals getan hatte, als sie ihm die Ofenbürste für den Auspuff angeboten hatte. Oder er ihr eine Schlittenfahrt angeboten hatte. Jedenfalls nicht, als hätte er nicht vor wenigen Minuten noch Hufe besessen und sich mit verzweifeltem Brüllen gegen seine Ketten geworfen.
“Wenn du das sagst… “
“Nicole wird diejenige sein, die morgens nach mir gucken kommt, denke ich. Sie sollte am leichtesten auf unsere Seite zu ziehen sein, und vielleicht kann sie mich dann auch direkt aus diesen lästige Ketten befreien. Mann, die jucken aber auch!”
“Tut mir leid.”
Nicholas winkte ab und die Ketten rasselten bei der Bewegung. “Ich hab dir doch eben schon gesagt, es liegt nicht an dir, dass du sie nicht aufbekommst. Jede Wette, dass sie mit einem Zauber belegt sind.”
“Falls ich irgendetwas tun kann…”
Nicholas schüttelte den Kopf. “Nein, das ist… – Oder warte, doch.” Er grinste ein wenig verlegen. “Ich will nicht, dass du glaubst, ich hätte schon wieder den Verstand verloren, aber -”
“Dafür konntest du ja wohl kaum was!”
“Aber wärst du so nett und würdest mich absuchen?”
“Absuchen? Wonach?”
“Ich frag mich nur… So wie sich die Rückverwandlung angefühlt hat – oder das, was ich davon mitbekommen habe – könnte ich schwören, dass es die gleiche Art von Magie war, die mich auch Eiszapfen erschaffen lässt. Und vielleicht ist das auch etwas ähnliches? Jedenfalls dachte ich…”
“Dann müsstest du ein weiteres Tattoo haben.”
“Genau.” Wieder das verlegene Lächeln. “Würdest du? Es würde mir Sicherheit geben, wenn ich wüsste, dass die Rückverwandlung jetzt zu einer beherrschbaren Fähigkeit geworden ist. Aber klar, ich würde auch verstehen, wenn es dir zu unangenehm wäre, immerhin bin ich…”
“Halbnackt?” Katrin hob eine Augenbraue.
Er grinste entschuldigend. “Nun ja…”
“In Ordnung. Streck deine Arme aus. Wir fangen mit dem einfachsten an.”
Doch Arme und Rücken waren tattoofrei. Ebenso Hals, Waden, und…
“Hier!” Aufgeregt ging Katrin in die Knie und deutete auf Nicholas rechten Knöchel, eine Stelle, die gerade so unter der Fußfessel sichtbar war. “Wie wäre es damit?”
Es war eine Miniaturausgabe eines einzelnen Krampushorns. In seiner Winzigkeit sah es unschuldig aus, geradezu irritierend harmlos, nicht annähernd so mächtig und todbringend wie es auf Nicholas‘ Kopf ausgesehen hatte.
“Könntest du dich willentlich zurück in den Krampus verwandeln?”
“Katrin, ich glaube nicht -”
“Du hast es selbst gesagt! Die Verwandlung gehört jetzt zu deinen Fähigkeiten. Du wirst mir nichts tun.”
“Dann trete wenigstens einen Schritt zurück.”
Sie tat wie geheißen.
Nicholas schloss die Augen. Mehr, weil er nicht ihre Reaktion auf die Verwandlung sehen wollte, denn weil er sich wirklich konzentrieren musste, vermutete sie.
Nichts geschah.
Nicholas öffnete die Augen wieder. “Ich spüre die Magie, aber sie scheint zu verpuffen, sobald sie Gestalt annimmt. Ich vermute, es sind die Ketten. Ich werde es wieder versuchen, sobald ich sie los bin. Und dann… werden wir sehen.”
Behind the Scenes
Das vorletzte Kapitel ist erneut von Anne Danck und auch hier hatten wir ein paar Positionsprobleme und mussten uns erstmal abstimmen, wer eigentlich wann, wie steht/kniet und umarmt. 😀
Was aber die längste Diskussion angezettelt hat, war die eigentliche Erlösung und wie das zustatten kommt, da hatte ich das Bild in meinem Kopf anfangs nicht genau genug kommuniziert und Anne musste nochmal ran und die Stelle umschreiben.
Und ja, mir ist bewusst, dass die Nacktheit nach einer Rückverwandlung ein alter Hut ist, aber immerhin ein peinlich-witziger, alter Hut. 😉
PoiSonPaiNter
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Lies auf Deutsch
I’m sorry so far there is no translation of this door
PoiSonPaiNter
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