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Adventskalender: Türchen #19

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Im Wein liegt die Wahrheit

Vielleicht hatte Carlos ihren Brief abgefangen und nicht weitergereicht. Katrin zog ihren Mantel enger um sich, während sie weiter voranstapfte. Jeder ihrer Atemzüge hinterließ Nebelwolken in der Luft. Bei ihren letzten Begegnungen war Carlos nicht mehr ganz so offensichtlich ablehnend gewesen wie zum Anfang, sondern beinahe … freundlich. Aber womöglich hatte sie sich getäuscht.
Oder das System der Wünscherfüllungsroutine sah keine direkten Adressaten vor und daher war der Brief als falsch aussortiert worden. Immerhin hatte sie beim letzten Mal keinen Namen explizit außen draufgeschrieben.
Oder aber die Wichtel waren gerade im Streik für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Nein, jetzt machte sie sich lächerlich.
Katrin klaubte in ihrer Jackentasche nach dem Haustürschlüssel. Obwohl sie nur einen kurzen Spaziergang gemacht hatte, um sich die Beine zu vertreten, waren ihre Finger eiskalt. Sie würde sich einfach der unangenehmen Wahrheit stellen müssen: Nicholas wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Was auch immer sie da geglaubt hatte, zwischen ihnen gespürt zu haben … es war entweder nie dagewesen oder erloschen.
Verflucht. Katrin brauchte tatsächlich drei Anläufe, um mit ihren steifen Fingern das Schloss zu treffen. Dann endlich öffnete sich die Tür und gestattete ihr in die lauschige, warme –
„Ah!“ Klirrend landete der Schlüssel auf dem Parkett.

Der dunkle Umriss einer Gestalt zeichnete sich in der Küche ab. Jemand war in ihre Wohnung eingedrungen. Jemand saß an ihrem Küchentresen.
„Da bist du ja endlich.“
Katrin erkannte die Stimme. „Himmel, Nicole!“
„Was?“
Ihr Herz hämmerte noch immer wie wild. „Du kannst doch nicht –… Du hast mich –… Ist das etwa mein Rotwein, den du da trinkst?“
Grinsend prostete Nicholas‘ Schwester ihr zu. „Der ist echt gut. Ich wusste doch, dass du nicht irgendein Gesöff für den Abend mit meinem Bruder besorgt haben würdest.“
“Bitte was?”
“Na Weihnachten. Du warst doch mit Nicholas verabredet.”
“Woher -” Katrin atmete tief durch. “Also ist mein Brief doch angekommen.”
Nicole grinste schief. “Wenn du das Briefgeheimnis gewahrt sehen willst, solltest du deine Post nicht auf diesem Weg verschicken.”
“Wahrung der Privatsphäre aus reiner Höflichkeit wird ja auch eindeutig überschätzt.“ Katrin schälte sich mühsam aus dem Mantel und machte sich daran, ihre Stiefel aufzuschnüren. Die ganze Situation kam ihr unwirklich vor. Sie hatte Nicole seit einem halben Jahr nicht gesehen und jetzt saß sie hier in Katrins Küche, die Beine auf ihrem Stuhl hochgelegt, ihren Rotwein im Glas und scherzte als wäre Katrin nur für den kurzen Spaziergang weggewesen.
Wie geht es Nicholas? Die Fragen brannten ihr auf der Zunge, drängten geradezu schmerzhaft aus ihr heraus. Geht es ihm gut? Warum hat er sich nicht gemeldet?
Doch sie hielt sich mühsam zurück. Einen Rest an Würde besaß sie noch. „Wie geht’s dir?“, fragte sie stattdessen und stützte sich auf die Lehne ihres Lesesessels. „Was macht Joulky? Ist noch Eis übrig?“
Nicole winkte ab. „Wenn das so weitergeht, ist bald nichts mehr mit rotem Mantel und Schlitten, sondern Badeshorts und Wasserski. Aber das ist schließlich nicht unsere Sache. Wenn die Normalsterblichen das so wollen…“
„Beeinträchtigt das eure Fähigkeiten?“
„Die hier?“ Nicole tippte sich auf den Rücken. „Nicht, dass ich es bisher gemerkt hätte.“
„Wenn ich also in zehn Jahren Sehnsucht nach Winter haben sollte, kann ich dich einfach besuchen kommen und dann machst du mir meinen privaten Schneesturm, ja?“
Es hatte ein Scherz sein sollen. Doch noch während sie es aussprach, merkte Katrin selbst, wie hilflos das klang. Bitte, bitte, lass mich wieder zu euch mitkommen.
Nicole legte den Kopf schief, als hätte auch sie die unterschwellige Note herausgehört. „Du vermisst meinen Bruder?“
Ertappt verzog Katrin das Gesicht. „Ja.“
„Gut.“ Nicole leerte das Glas aus und stellte es mit einem melodischen Klingen auf der Arbeitsplatte ab. „War mir nicht ganz sicher. Aber das ist gut. Sehr gut.“
„Warum in aller Welt sollte das gut sein?“, platzte es aus Katrin heraus. „Ihr lasst seit Monaten kein Wort von euch hören und trotzdem gibt es nichts anderes, was mir im Kopf herumspukt! Ich habe versucht, ein Kinderbuch aus dem Erlebten zu machen, um mir endlich klar zu machen, dass es nichts anderes war als das: eine Märchengeschichte. Aber stattdessen habe ich mit jeder Seite gemerkt, wie sehr ich zurückwill. Und das ist nicht gut, das ist dumm. Schließlich weiß ich doch, dass ich nicht zu euch gehöre und niemals mit euren Fähigkeiten und den magischen Portalen und fliegenden Rentieren mithalten könnte. Wie soll man mit jemandem befreundet sein, wenn man ihn nicht mal nach eigenem Belieben besuchen kann? Das ist…“ Sie warf die Hände in die Luft. „Ein Hirngespinst. Unsinn.“
„Vor allem ein verdammt langer Monolog.“
Katrin lachte bedrückt. „Tut mir leid.“ Sie fuhr sich übers Gesicht, das von der Winterluft draußen noch immer kalt und steif war. „Ich hätte diese Dinge einfach nie sehen sollen.“
„Stimmt.“

Ein so schlichtes Wort – und trotzdem fühlte es sich an wie ein spitzer Nadelstich.
„Aber da es nun nicht mehr rückgängig zu machen ist und du ohnehin alles weißt…“ Nicole nahm die Füße vom Stuhl und stand auf. „Kannst du dich ebenso gut nützlich machen.“
„Das heißt?“
„Dass du mich zurückbegleiten wirst.“
„Nach Joulky?“
„Nein, ins Auenland. Natürlich nach Joulky, Dummerchen.“
„Aber –“
„Nun hör mir mal gut zu.“ Nicole wies mit dem Finger auf sie. „Das ist eine Familienangelegenheit und ich würde behaupten, dass sie dich keinen Pfifferling angeht, aber so wie die Dinge stehen, habe ich keine andere Wahl! Klar?“
„Ja – Nein – Worüber redest du?“
„Nicholas weigert sich, mit uns zu reden.“
Katrin blinzelte.
„Er hat sich auch geweigert, deinen Brief zu lesen. Oder auch nur irgendjemanden anzusehen. Er sitzt nur tagein, tagaus in der Bibliothek und zieht sich einen Wälzer nach dem nächsten rein.“
„Aber warum…“
„Tja. Das“, Nicole hob die Brauen, „fragst du ihn am besten selbst.“

Behind the Scenes

Und die letzte Gastautorin: Anne Danck! Nicht nur im Märchensommer war sie fleißig dabei, auch hier hat sie – neben mir – die meisten Kapitel beigesteuert, nur das sie etwas anders aufgeteilt sind, als ursprünglich geplant. 😉

Dieses Kapitel war eines der ersten, die geschrieben wurden, daher mussten wir eine ganze Weile warten, bis die letzten Anpassungen hier gemacht werden konnten, damit ich dann alles hier einpflegen konnte. Das ist für mich immer der nervigste Teil an Adventskalendern: Man fängt irgendwann im Sommer an, ist aber in der Weihnachtszeit immer noch nicht fertig. Zumindest ist das bei mir so … wobei ich vergessen habe, wo mein Rekord mit schnellster Fertigstellung liegt … irgendwas im Dezember (ich hab 17. und 9. im Kopf irgendwie …). 😀 (Anm.: Dieser Beitrag wurde am 13.12. geplant.)

Abgesehen davon, dass sie die Emotionen toll getroffen hat, finde ich übrigens das alternative Ausflugsziel sehr gut gewählt. 😀

PoiSonPaiNter

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I’m sorry so far there is no translation of this door

PoiSonPaiNter

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