Adventskalender: Türchen #22

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Eine wirklich dumme Idee

Sie drückte auf die Wahlwiederholungstaste. Es tutete. Wieder nahm keiner ab.
“Komm schon, Nicholas.” Stirnrunzelnd starrte Katrin das Telefon an und legt auf. Es machte sie nervös, diese Funkstille. Es hatte so schön funktioniert, die letzten Wochen. Sie schrieb ihm Nachrichten über den Stand ihrer Suche, er schrieb zurück. Doch seit zwei Tagen…
Erneut drückte sie auf die Wahlwiederholung. Entschied sich dagegen und legte wieder auf. Stattdessen durchsuchte sie das Telefonbuch nach Nicoles Nummer. Zögerte. Und rief dann an.
Es klingelte nur dreimal.
“Ja?”
“Ich bin’s, Katrin.” Sie presste sich die Finger gegen die Nasenwurzel. “Du, sag mal, ich kann Nicholas nicht erreichen…”
“Was? Ja…Moment.” Vom Hörer weg sagte Nicole etwas auf Norwegisch. Im Hintergrund war einiges an Tumult zu hören. Mehrere Leute riefen gleichzeitig, ohne dass Katrin jedoch hätte verstehen könne, worum es ging. “Ist gerade ein ganz schlechter Zeitpunkt”, hörte Katrin dann wieder lauter auf fast akzentfreiem Deutsch. “Ich ruf dich später zurück.”
“Nicole.” Katrin legte alle Autorität in ihre Stimme wie sie es sonst nur bei ihrer Kindergartengruppe tat. “Lass mich helfen.”
“Nein, das ist -” Noch mehr laute Stimmen im Hintergrund. Ein Splittern, das klang, als wäre Holz zu Bruch gegangen. “In Ordnung. Ich bin gleich bei dir.”

Auf dem Weg vom Portal zum Haus sprach keiner von ihnen. Sie hasteten nur schnellstmöglich durch die Schneemassen, beinahe sogar zu schnell, als dass Katrin Zeit zum Frieren gehabt hätte. Aber nicht schnell genug, dass nicht trotzdem die Gedanken hochgekommen wären. Was war in ihrer Abwesenheit passiert? Wie konnte Nicholas – der Nicholas, der mit ihr im Schlitten geflogen war, sie blind an der Hand durch die Bibliothek geführt hatte und sich bei Verlegenheit auf die Lippe biss – wie konnte derselbe Nicholas für das Chaos am anderen Ende des Telefons verantwortlich gewesen sein? Wollte sie wirklich sehen, wie er jetzt war? Würde sie tatsächlich etwas ändern können?
Als sie das Haus betraten, war es totenstill. Kein lautes Stimmengewirr, kein Poltern.
Am Wohnzimmertisch fanden sie dann lediglich Carlos und Natascha, umgeben von einem Chaos aus Holzsplittern und Porzellanscherben. Anscheinend hatte es Kuchen gegeben – doch die Reste des Gedecks waren überall im Raum verteilt. Eine Gabel steckte sogar auf Augenhöhe im Türrahmen und Katrin wollte sich nicht ausmalen, wie sie dorthin gekommen war.
Während Carlos unbeholfen auf Natascha einredete, drückte sich diese stumm ein Taschentuch gegen die Augen, die Schultern von gelegentlichem Beben geschüttelt. Doch beim Knarren ihrer Schritte auf dem Boden, verstummte Carlos und sah sich um.
“Wo sind die anderen?”, platzte Nicole sofort heraus. “Wo ist Nicholas?”
Von Natascha war lediglich ein leises Japsen zu hören.
“Carlos?”
Er murmelte etwas Unverständliches.
“Was ist passiert? Was habt ihr mit ihm gemacht!”
Unter Nicoles Ausbruch schrumpfte Carlos in sich zusammen. “Nicholas – er war nicht mehr er selbst und -“
“Das habe ich gesehen!”
“Nein, es wurde noch schlimmer und er…” Carlos presste die Augen zusammen, als würden die Bilder ihm Schmerzen bereiten.
“Er hat Klaus verletzt.” Nataschas Stimme war heiser. “Ich bin mir sicher, er wollte es nicht. Aber in seinem jetzigen Zustand… Nick hat keine andere Wahl mehr gesehen, als die Glocke zu benutzen.”
“Die Glocke? Ihr habt ihm seinen eigenen Willen genommen? Ihn handlungsunfähig gemacht?” Nicoles Worte überschlugen sich fast, sie begann am ganzen Körper zu zittern. “Wie könnt ihr – wie könnt ihr…”
Auch wenn Katrin selbst die Knie weich waren, so war sie doch noch geistesgegenwärtig genug, um Nicole einen Stuhl hinzuschieben und sie sanft darauf zu bugsieren. Allein dass diese es ohne Widerstand geschehen ließ, sprach Bände. “Wo ist er jetzt?”, fragte Katrin an Carlos und Natascha gewandt.
“Er musste fort von hier, wo er sich selbst oder anderen Schaden kann.”
“Wo ist er?”, wiederholte Katrin stur.
“In der Krampus-Höhle”, antwortete Natascha kaum hörbar und drückte sich erneut das Taschentuch gegen die Augenwinkel.
Sie hatten ihn weggesperrt.

Sie konnte nicht schlafen.
Katrin lag in dem fremden Bett und starrte an die Decke. Zum Fenster, vor dem die dunkle Nacht gähnte. Auf den Wecker, dessen Zahlen in schwachem Grün leuchteten. Ein Uhr drei. Wundervoll. Wütend starrte sie wieder zur Decke auf.
Warum bitte war sie hier, wenn sie nichts tun konnte? Ob nun hier oder in ihrem eigenen Bett – Nicholas war unerreichbar. Nicht räumlich, vielleicht, aber dennoch geistig. Wenn sich nicht einmal mehr seine magische Familie in seine Nähe traute…
Plötzlich saß sie aufrecht im Bett, das Herz schmerzhaft klopfend. Statt dem dunklen Zimmer sah sie den alten Krampus vor sich, wie er eingefroren im Eisblock hing. Was, wenn… Das würden sie nicht… Sie waren seine Familie! Sie würden doch nicht…
Auch der alte Krampus war Teil der Familie gewesen.
Sie hatte die Bettdecke zur Seite geschlagen und sich die Hose übergestreift, bevor sie sich überhaupt bewusst war, was sie tat. Sie konnte einfach nicht anders. Sie musste es wissen. Sie musste es sehen. Sie musste ihn sehen. Wenn er nun gar nicht weiter verändert war und sie ihn trotzdem angekettet hatten? Sicher, sie würde nichts tun können – außer ihm Gesellschaft zu leisten – aber dann hätte sie wenigstens die Gewissheit, mit was für Menschen sie es hier zu tun hatte.
Und falls sie doch allen Grund hatten, ihn anzuketten… Aber diesen Gedanken schob sie ganz schnell wieder fort.
Pullover. Noch einen Pullover. Dicke Socken. Schal. In ihrer Hast stolperte sie beinahe über ihre eigenen Füße, als sie den Flur entlanghuschte. Dabei musste sie doch um alles in der Welt leise sein! Wenn auch nur einer von ihnen Wind davon bekam, was sie vorhatte…
Die Treppe hinunter. Stiefel überziehen. Sie angelte nach der geborgten Winterjacke und riss dabei beinahe eine andere mit hinunter. Atmen. Mütze über, Handschuhe an, Schal feststopfen. Kein Zurück.
Sie stürzte sich hinaus in die Kälte.

Schon der erste Luftzug biss sich mit eisigen Zähnen von innen in ihre Lunge. Ihre Wangen erstarrten, ihre Augen brannten. Es hatte noch einmal geschneit, die weiße Schicht war jetzt noch höher, ging ihr beinahe bis zu den Knien und machte jeden einzelnen Schritt zu einem Kraftakt. Sie musste wahnsinnig sein.
Außerdem hätte sie sich eine Taschenlampe besorgen sollen. Schon hier auf der Rückseite des Wohnhauses, ohne den Schein der Laternen und Lichterketten des Marktplatzes, war es so duster, dass sie kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Auch auf die Gefahr hin, von den Fenstern aus gesehen werden zu können, zog sie ihr Handy aus der Tasche und betätigte den Bildschirm, um wenigstens den leisesten Hauch eines Lichtscheines zu haben. Die Kälte kroch ihr bereits tief in die Glieder, die Hose war vom Schnee komplett durchgeweicht.
Dumme Idee, ganz dumme Idee.
Katrin biss die Zähne zusammen und stapfte weiter. Immer weiter. Es war zu dunkel, um von Weitem die Höhle zu erkennen und sie konnte nur hoffen, dass sie nicht in der Richtung irrte.
Wie ihre Kindergartenkinder gucken würden, wenn sie ihnen von diesem Abenteuer erzählte. Wie sie ganz allein und verfroren durch die Nacht stiefelte, nur um einen Blick auf Nicholas werfen zu können. Nein, besser sie hörten solche Geschichten nicht. Das hier war längst kein Weihnachtsmärchen mehr, es war zu einem Albtraum geworden.
Selbst in den Handschuhen waren ihre Finger allmählich steife Eisklumpen, die kaum noch in der Lage waren, das Handy zu halten. Unsicher warf Katrin einen Blick zurück in Richtung Dorf, wo ein schwacher Lichtschimmer Schnee und Nacht erhellte. Dann schob sie das Handy zurück in die Tasche und kämpfte sich im Dunkeln weiter. Zwang sich dazu, nicht zu denken und stattdessen die Anzahl der Schritte zu zählen.

Sie war bei zweihundertdreiundachtzig, als sie erkannte, dass die Verdichtung der Dunkelheit zu ihrer Linken die Höhle sein musste und sie beinahe daran vorbeigegangen wäre. Mit unendlich steifen Gliedern und vor Frost schmerzenden Zehen legte sie die letzten Meter im Tiefschnee zurück.
In der Höhle war es auch jetzt noch erstaunlich trocken. Kein Schnee hatte es über die ersten paar Meter hineingeschafft. Außerdem gab es hier wenigstens Fackellicht, es fühlte sich beinahe wieder wie Zivilisation an. Dankbar klopfte sich Katrin den Schnee von den Beinen und lehnte sich für einen Augenblick nur gegen die raue Höhlenwand, um durchzuatmen. Um die Angst in Schach zu halten, was sie gleich sehen würde.
Was, wenn er womöglich doch gar nicht hier war? Wenn sie den ganzen Weg umsonst zurückgelegt hatte?
Hastig stieß sie sich von der Wand ab und wandte sich dem Inneren der Höhle zu. “Nicholas?”, rief sie aufs Geradewohl und ihre zu hohe, halb erfrorene Stimme hallte von den schartigen Wänden wider. “Nicholas, bist du hier? Nicho-”
Das Knurren, das ihr antwortete, fuhr ihr durch Mark und Bein. Für einen Herzschlag lang vergaß sie zu atmen.
Das… das war kein Versuch gewesen, ein Wort zu formulieren. Das hatte nichts Menschliches mehr an sich gehabt.
Wieder ein Knurren. Und ein lautes Rasseln, das beinahe noch unheimlicher war.
Betroffen stürzte Katrin um die letzte Ecke.
Das Wesen, was dort angekettet war, bestand nur noch aus Fell und Klauen und gelbglühenden Augen, die ihr wild entgegenstarrten. Es hätte der alte Krampus sein können – selbst Hufe und Hörner waren identisch – hätte er nicht unverkennbar eine größere Statur besessen.
“Nicholas?”, hauchte Katrin.
Mit einem weiteren nackenhaarsträubenden Knurren warf sich das Wesen gegen seine Ketten. Nicht, wie es ein Mensch getan hätte, der sich befreien wollte. Sondern wie ein gefährlicher, zähnefletschender Rottweiler, der den Eindringling aus seinem Revier verjagen wollte.

Er erkannte sie nicht mehr.

Behind the Scenes

Heute gibt es wieder ein Doppelkapitel, diesmal alle beide von Anne Danck. Auch hier war ursprünglich angedacht zwei Kapitel draus zu machen, aber es passte dann doch besser zusammen, dass Katrin im gleichen Atemzug erfährt was geschehen ist und es mit eigenen Augen sieht. Da ich Anne erst nachträglich gebeten haben auch den ersten Teil zu übernehmen, war die zweite Hälfte vorher fertig. 😀

Und wer aufgepasst hat, hat vielleicht gemerkt, dass ein Charakter so ziemlich die Nase voll haben sollte von Krampen, Krampussen … oder wie auch immer die Mehrzahl von Krampus ist. 😉

PoiSonPaiNter

© Für Geschichte und Charaktere liegen bei mir. Verwendung oder Weitergabe nicht ohne meine Zustimmung.
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I’m sorry so far there is no translation of this door

PoiSonPaiNter

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