Augen

1976 Mawnan Church, Cornwall
Es ist kurz vor Mitternacht. Eine junge Frau geht durch den rabenschwarzen Wald in Mawnan, Cornwall. Der Weg ist breit genug fĂŒr zwei Automobile, dennoch wirkt er eng. Uralte, mĂ€chtige BĂ€ume umsĂ€umen ihn. Sie schaut sich forschend um. Geschichten wurden ihr erzĂ€hlt, es gĂ€be hier ein Ungeheuer; mehr Tier als Mensch. Zwar haben es bis jetzt nur wenige zu Gesicht bekommen, aber es sei Furcht einflĂ¶ĂŸend, so sagt man. Der Adrenalinspiegel in ihrem Körper steigt immer mehr an. Angst vor dem unbekannten Wesen, gepaart mit der Vorfreude es zu erblicken, es vielleicht sogar fotografieren zu können. In einer Hand hĂ€lt sie die neue Kamera fĂŒr den erhofften Moment bereit. Extra fĂŒr diese Reise gekauft. Mit der anderen umklammert sie den Gurt ihrer UmhĂ€ngetasche. Sie zittert vor Aufregung. Ihr Blick wandert hastig, aber doch forschend ĂŒber die Baumreihen.
Etwas weiter vor ihr ragt ein Ast mitten ĂŒber die Straße. Wie von Geisterhand beeinflusst schaute sie dort hin. Dunkel ist der Schatten, der sich vor dem sternenklaren Himmel abzeichnet, den strahlenden Vollmond im RĂŒcken. Die Gestalt ist etwa menschengroß und geflĂŒgelt. Kann das wirklich sein? Hat sie wirklich das GlĂŒck, gerade heute dem Eulenmann von Cornwall zu begegnen? Langsam und darauf bedacht keine GerĂ€usche zu machen schaltet sie die Kamera ein, vorsichtig hebt sie diese vor die Augen. Ohne Vorwarnung erhebt sich das Geschöpf in die LĂŒfte. Mit den krallenartigen Hinterbeinen stĂ¶ĂŸt es sich kraftvoll vom Ast ab. FĂŒr einen kurzen Moment schwebt das Wesen, bevor es die weiten Schwingen gĂ€nzlich ausbreitet und zum Sturzflug auf die junge Frau ansetzt. Sie ist starr vor Schreck. Es ist fast zu spĂ€t fĂŒr ein Foto. Doch sie schafft es. BetĂ€tigt den Auslöser. KLICK. Scharfe Krallen rasen auf sie zu. Durch den Zoom stark vergrĂ¶ĂŸert, sieht sie die drohende Gefahr. Immer weiter nĂ€hern sich die tödlichen Waffen ihrem Gesicht. Doch sie bewegt sich nicht. Ist nur in der Lage die Kamera zu senken. Es scheint ihr, als stĂŒnde die Welt still. Das einzige GerĂ€usch das sie wahrnimmt, ist das der durch die Luft gleitenden Schwingen. Allein die immer nĂ€her kommenden Krallen dominieren ihr Blickfeld. Sie hat keine Angst. Sie hat Todesangst. Regungslos wie eine Statue steht sie da. Mit weit aufgerissenen Augen und der Kamera noch immer in den HĂ€nden. Sie kneift die Lider fest zusammen. Sich wĂŒnschend, das alles wĂ€re nur ein Traum. Ein schlimmer Traum. Noch ist sie nicht bereit zu sterben. Mit weit von sich gestreckten Beinen landet das Wesen nur ein paar Meter vor ihren FĂŒĂŸen. Den tödlichen Stoß erwartend, öffnet sie zaghaft ihre Augen. ‚Lebe ich noch?‘ Das Erste, was sie erblickt, sind zwei leuchtend rote Punkte, die in ihre Richtung starren. Feuerrote Augen, die unter einem dichten Federkleid hervorblicken. Noch immer kann sie nicht begreifen, was gerade geschieht. Steht sie tatsĂ€chlich diesem sagenumwobenen Etwas gegenĂŒber? Sie atmet tief durch. Beruhigt sich. Zu lange hat sie auf diesen Augenblick gewartet. Langsam schwindet ihre Angst. Der Wunsch nach Wissen verdrĂ€ngt sie. Die Neugierde gewinnt die Überhand. Sie wagt es einen kleinen Schritt auf das Wesen zu zugehen, welches von der Bewegung ĂŒberrascht die mĂ€chtigen Schwingen ausbreitet. Einzelne Federn werden aufgewirbelt und schweben in der Luft., selbst dann noch, als sich das Wesen erneut in die LĂŒfte erhoben hat. Verdutzt ĂŒber diese Reaktion blickt sie zu ihm auf. Schnell begreift sie, welche Chance ihr zu entgehen droht.
Wie aus einer Trance erwacht schreit sie: „HEY WARTE! DU BRAUCHST KEINE ANGST VOR MIR ZU HABEN! ICH WILL NUR WISSEN WAS DU BIST! WER DU BIST! ICH WILL DIR NICHTS BÖSES TUN!“
Sie versucht das Wesen mit ihrer Stimme aufzuhalten, lĂ€uft ihm hinterher und lĂ€sst die dunkle Gestalt nicht aus den Augen. Ruckartig bleibt sie stehen als sie bemerkt, dass sie gehört wurde. Erst dreht das Wesen nur seinen Kopf, wĂ€hrend es sich weiter von ihr entfernt, dann aber dreht es sich komplett in der Luft und kehrt zurĂŒck zu dem Punkt an dem sie gestoppt hat. VerblĂŒfft ĂŒber die Wirkung ihrer Worte schleicht sich ein LĂ€cheln auf ihre Lippen. Noch nie war sie so aufgeregt. Elegant landet das Geschöpf vor ihren FĂŒĂŸen. Etwas hat sich verĂ€ndert. Seine Augen sind nicht lĂ€nger mit glĂŒhenden Kohlen vergleichbar, eher mit dem hellen Glanz von Bernstein. Durchdringend starrt es sie an.
„Waaas…wiiillst duuu?“, bringt die Gestalt mit einer Stimme hervor, die mehr an den verzweifelten Sprechversuch eines Tieres erinnert, als an die eines Menschen.
„Waaarum…haaast…duuu…keiiine…Aaangst?“, verwundert reist es die Augen auf und legt den Kopf auf die Seite.
„Ich…Ă€hm…“, stammelte die junge Frau, kaum in der Lage die richtigen Worte zu finden.
„Reeede..oooder iiich weeerde diiich zerfetzen!“, es schnappt nach ihr um seine Worte zu verdeutlichen.
Sie zuckt zurĂŒck und sieht sich Angesicht zu Angesicht mit diesem Ding. Mit MĂŒhe versucht sie den Schrecken zu unterdrĂŒcken. Die junge Frau atmet tief ein und setzt erneut zu einer Antwort an.
„Ich will mehr ĂŒber dich erfahren“, platzt es aus ihr heraus.
Erschrocken ĂŒber ihr eigenen Worten kneift sie die Augen zusammen. Das Wesen breitet erneut seine mĂ€chtigen Schwingen aus und verursacht ein GerĂ€usch, das einem Lachen nicht unĂ€hnlich ist. Immer mehr Federn werden durch den Wind erfasst, einige landen in ihrem Gesicht. Zögernd nimmt sie eine Feder in die Hand und löst ihren Blick von dem Wesen um sie zu betrachten. Nicht viel anders als normale Vogelfedern. Sie fĂŒhlt sich nur anders an, sehr viel weicher. Immer mehr Federn fliegen davon. Erneut sieht die junge Frau auf. Das Federkleid lichtet sich.
„Guuut daaas duu hinsiehst“, wieder lacht es, doch nun klingt es nicht mehr so eulenhaft wie bisher.
Vor ihren Augen fallen die Federn wie von selbst ab. An Stelle des unheimlichen Vogels steht nun ein junger Mann vor ihr. Wie sie erkennen kann, ist er gut gebaut und trÀgt nur eine zerfetzte, alte, kurze Hose. Es ist kaum vorstellbar, dass dieser Mann noch vor wenigen Sekunden komplett mit Federn bedeckt war.
„Du bist eine der wenigen Personen, die meine Verhandlung je miterleben durften. Du kannst dich geehrt fĂŒhlen!“, wieder lacht er, diesmal klingt es sehr menschlich.
Sein LĂ€cheln wirkt nun nicht mehr wie eine Grimasse.
„Deinem Blick nach zu urteilen hast du so etwas nicht erwartet“, er neigt seinen Kopf so das er ihr direkt in die Augen sehen kann. Sie weicht seinem Blick aus.
„Doch auf gewisse Weise schon, es gibt da ja diese Geschichten, aber es ist doch unerwartet.“, antwortet sie ausweichend.
„ErzĂ€hl mir doch in meinem Haus von den Geschichten.“, schlĂ€gt er vor und fasst sie an der Schulter. Sie schreckt zurĂŒck.
„Oder hast du etwa doch Angst vor mir?“, wieder versucht er ihr in die Augen zu blicken.
„Nein, natĂŒrlich nicht, lass uns gehen!“, widerspricht sie und geht voraus. Er soll nicht bemerken wie schnell ihr Herz rast.
„Und dabei weißt du noch nicht einmal wo es lang geht!“, erneut macht er sich ĂŒber sie lustig.
Nach etwa einer halben Stunde Fußweg stehen sie vor einer alten Kirche. Er fĂŒhrt die junge Frau um das GebĂ€ude herum, zu einer eher unscheinbaren HĂŒtte.
„Tritt ein“, er hĂ€lt ihr die TĂŒr auf und winkt sie herein.
Erneut zögert sie, doch dann folgt sie der Anweisung. Schnell blickt sie sich in dem weitlĂ€ufigen Raum um bevor ihr Blick wieder zu dem jungen Mann huscht, der nun hinter ihr die TĂŒr schließt.
„Nimm Platz und berichte mir, was man sich ĂŒber mich erzĂ€hlt.“, fordert er sie auf und deutet auf einen großen Tisch in der einen HĂ€lfte des Zimmers.
Sie setzt sich, wobei ihre Augen weiterhin auf ihn geheftet bleiben. Die junge Frau beginnt zu erzÀhlen.
Von Leuten, die ĂŒber ein eulenartiges Wesen berichteten, das auf dem Turm der benachbarten Kirche gesehen wurde. Von kleinen Kindern, die einen riesigen Vogel erblickt haben. Sowie andere Geschichten, die sie darauf gebracht haben an diesen Ort zu kommen.
„Und nun wolltest du dich mit eigenen Augen davon ĂŒberzeugen, ob ich wirklich existiere?“, er stĂŒtzt seinen Kopf auf die HĂ€nde und blickt sie lĂ€chelnd an.
„Ja.“, wieder versucht sie seinem Blick auszuweichen.
„Also was genau willst du ĂŒber mich wissen?“
„Einiges.“
„Dann fang‘ an deine Fragen zu stellen!“, er lehnt sich auf seinen Stuhl zurĂŒck und betrachtet sie.
Nach genauem abwiegen ihrer unzÀhligen Fragen, stellt sie ihm die Erste.
„Also“, sie rĂ€uspert sich „Was bist du?“
Er grinst. „Das ist wohl unschwer zu erkennen oder?“
Verdutzt blickte sie ihn an.
„Kleines, es mag absurd klingen in deinen Ohren, aber ich bin ein Werwesen, sozusagen eine Wereule“, er lacht schallend und beugt sich wieder nach vorne.
„Und so wie du mich ansiehst, gingen deine Vermutung bereits in diese Richtung, habe ich Recht?“
„Ja“, wieder weicht sie seinem Blick aus.
„Bevor ich dir von mir erzĂ€hle, beantworte mir eine Frage.“
Dieses eine Mal weicht sie seinem Blick nicht aus, zu groß ist ihr Wissenshunger.
„Welche?“
„Warum willst du mehr ĂŒber mich erfahren?“, er fixiert sie mit seinen Augen.
„Weil ich den Leuten die Wahrheit ĂŒber dich erzĂ€hlen möchte.“
Sie kann nicht lÀnger seinem durchdringenden Blick stand halten.
„Dann merke dir gut was ich dir jetzt erzĂ€hlen werde, ein zweites Mal wirst du diese Chance nicht erhalten.“
Elegant erhebt sich der Eulenmann und schlendert zur KĂŒchenzeile. Davor auf und ab gehend beginnt er zu erzĂ€hlen. Von sich, von seiner Familie, von seinem Leben als Monster. Gebannt verfolgt sie jede Bewegung des wohl geformten Körpers und lauscht interessiert seiner ErzĂ€hlung.
Er dreht sich zum SpĂŒlbecken um und stĂŒtzt seine HĂ€nde auf die ArbeitsflĂ€che.
„Warum erzĂ€hle ich dir das eigentlich?“, fragt er kopfschĂŒttelnd.
„Weil du mit jemandem darĂŒber reden willst?“ entgegnet sie ohne auf ihre Worte zu achten.
Entgeistert fĂ€hrt er herum und starrt sie mit hasserfĂŒllten Augen an. Ruckartig senkt er seinen Kopf wieder und löst seine zu FĂ€usten geballten HĂ€nde. Als er sie wieder ansieht ist nichts mehr von der Verachtung die er kurzzeitig empfand zu sehen.
„Du solltest jetzt lieber schlafen gehen…“
Er ist nicht in der Lage ihr weiterhin in die Augen zu blicken. Sein Herz rast noch immer. Irgendetwas macht sie mit ihm. Ob er darauf eingehen soll? Es ausleben, dieses GefĂŒhl, das sie in ihm weckt? Langsam gleiten seine Augen ĂŒber ihren Körper. Alles an ihr fasziniert ihn. Kaum bemerkt er, wie er sich auf sie zubewegt. Schon ist sie direkt vor ihm. Eine seiner HĂ€nde legt er auf ihre Stuhllehne, die andere auf die Tischplatte. Er beugt sich zu ihr hinunter, sieht das Leuchten in ihren Augen. Ihre Gesichter berĂŒhrten sich fast, als er ihr ins Ohr flĂŒsterte: „Verbring die Nacht mit mir.“
Mit weit aufgerissenen Augen blickt sie ihn an. Nervös versucht sie aus seiner Reichweite zu gelangen.
„Was?!“
Schwer atmend rutscht sie weiter von ihm weg. Der Stuhl auf dem sie sitzt beginnt zu schwanken. Klappernd fĂ€llt er zu Boden. Sie jedoch liegt in seinen Armen, er drĂŒckt sie fest an sich. Ihre Beine umschließen reflexartig seine HĂŒften, mit ihren Armen klammert sie sich an seinen Oberkörper. Der Schreck und seine viel zu schnelle Reaktion haben sie dazu veranlasst. Sie spĂŒrt sein Verlangen. Er lĂ€sst ihr keine Möglichkeit sich vollkommen zu befreien. Nur ihren Kopf kann sie von seiner Schulter heben, um ihm in die lieblosen Augen blicken zu können.
„Das kannst du nicht tun!“
„Doch ich kann.“
„Lass mich los!“, schreit sie ihn an und versucht sich aus seinem Klammergriff zu befreien.
Doch er hĂ€lt sie nur noch fester. In einer Geschwindigkeit die zu schnell ist, als das sie es mitbekommt bewegen sie sich. Schon nach wenigen Sekunden stehen sie auf der Treppe. Erneut versucht sie sich loszureißen, doch es gelingt ihr nicht. Nach einem weiteren Augenblick stehen sie vor einer TĂŒr. Ohne große Umschweife stĂ¶ĂŸt er sie auf und betritt den Raum. Immer noch hĂ€lt er sie mit seiner ĂŒbermenschlichen Kraft fest. Es ist sein Schlafraum. Er wirft sie aufs Bett. Sie versucht sich herunter zu rollen, doch er ist schneller. Mit Armen und Beinen presst er sie auf die Matratze. Sie wehrt sich; versucht nach ihm zu treten und ihn zu schlagen. Nach kurzem Kampf beginnt er ihr die Kleider vom Leib zu reißen. Sie kann sich nicht mehr bewegen. Sich nicht mehr wehren. Das Einzige was ihr noch ĂŒbrig bleibt ist es zu schreien. Mit voller Kraft verleiht sie ihrer Angst Ausdruck.
„NEIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII………“, ihr wird schwarz vor Augen.
„……IIIIIIIN!!!!!“ schweißgebadet erwacht sie.
Verwirrt schaut sie sich um. Auf der Suche nach ihm, die Bettdecke fest umschlungen. Ängstlich tastet sie ĂŒber das Bettlaken neben sich. Ihre Finger streifen ĂŒber etwas Festes. Unweigerlich zuckt sie ein StĂŒck zurĂŒck, fast fĂ€llt sie sogar aus dem Bett. Erst jetzt begreift sie, WO sie ist, WER das ist. Tief atmet sie ein. Ihr Herzschlag verlangsamt sich. Langsam rutscht sie wieder auf das Bett. NĂ€her zu dem Mann neben sich, ihrem Partner. Sie hatte das alles nur getrĂ€umt. Erleichtert legt sie ihren Arm um seine HĂŒfte und schmiegt sich an ihn. Mit dem beruhigenden GefĂŒhl, in Sicherheit zu sein, schlĂ€ft sie letztendlich ein.
Eine kleine, unscheinbare Feder hat sich aus ihrem Haar gelöst und schwebt vom Wind getragen zum angelehnten Fenster. WĂŒrde sie in diesem Moment dem Weg der Feder folgen, dann könnte sie nicht so ruhig an der Seite ihres Geliebten schlafen. GlĂŒhend rote Auge betrachten sie durch die Scheibe.
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