Daily Archives: 16. Dezember 2017

Adventskalender: Türchen #16

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Der Krampus

Im zweiten Fabrikgebäude fanden sie ihn schließlich. Er stand alleine am Ende eines stillstehenden Fließbands und tüfftelte an einem kleinen metallischen Spielzeugauto.
“Hallo Heinrich”, grüßte Carlos ihn, nicht viel von seiner normalen Freundlichkeit war zu hören.
“Hab ich Post bekommen, Carlos?”, fragte er ohne aufzusehen.
“Nein. Wieso bist du hier alleine? Der Chef hat gesagt, wir sollen immer zu zweit unterwegs sein”, antwortete dieser stattdessen.
“Schmarrn. Nach der Aussortierung heute Vormittag weiß jeder, dass der Krampus nur hinter unartigen Menschen her ist”, winkte Heinrich unbekümmert ab und schraubte weiter an einem kleinen Rad, “Ich hab nichts unartiges getan, also bin ich vor ihm sicher und kann in Ruhe arbeiten.”
“Interessante Sichtweise”, kommentierte Carlos und warf Katrin einen vielsagenden Blick zu. Sie nickte und er stellte sie vor, wobei er sie etwas vor sich schob: “Katrin hier, möchte dir ein paar Fragen stellen.”
Heinrich sah auf und rückte seine Brille zurecht. “Die berühmte Besucherin. Wie kann ich helfen? Möchtest du Tipps, wie man ein Spielzeugauto effizient repariert?”
“Nein, ich möchte wissen, ob es stimmt, dass Nikolaus Maros Ihnen Pläne zur Überarbeitung eines Spielzeugs abgekauft und als seine eigenen ausgegeben hat?”, fragte sie geradeheraus.
“Wie kommst du darauf?”, versuchte Heinrich es runterzuspielen.
“Er hat es mir selbst erzählt, ich möchte Ihre Version davon hören.”
“Er hat -? Sieht er auf seine alten Tage doch noch seine Fehler ein?” Heinrich lachte bitter. “Nein, er hat sie mir nicht abgekauft. Ich habe nie Geld für meine Pläne erhalten. Er hat sie sich einfach genommen.”
“Und das konnten Sie nicht auf sich sitzen lassen? Sie mussten etwas dagegen tun?”, hakte Katrin nach.
“Worauf spielst du an, junge Dame?”, versuchte er sie aus der Reserve zu locken, aber Katrin hatte keine Lust auf Spielchen: “Den Krampus.”
“Was hat der damit zu tun?”, wunderte sich Heinrich, aber ein leichtes Zittern war in seiner Stimme zu hören.
“Den ältesten Santa mit Hilfe des Krampus als unartig zu entlarven, klingt nach einer sehr passenden Rache, oder was meinst du, Carlos?” Katrin rief sich alle Kriminalisten ins Gedächtnis, von denen sie je gelesen hatte und tat ihr Bestes es ihnen gleich zu tun in der Überführung des Täters. Auch wenn es vermutlich albern wirkte und ihr Herz wie wild pochte.
“J-ja, das klingt nach einer gelungenen Rache”, bestätigte Carlos etwas verwirrt.
“Und wie soll ich das bitteschön angestellt haben?”, wollte Heinrich wissen und verschränkte die Arme herausfordernd.
“Sie haben sich von Natascha hergestellte Decken besorgt um damit nach und nach das Eis zu schmelzen, dass den Krampus eingesperrt hielt. Meinen Aufenthalt, der Nikolaus sowieso schon ein Dorn im Auge war, haben Sie dann als perfekte Gelegenheit gesehen, um Ihren Plan zu vollenden. Sie haben sich irgendwann eine Kopie der Schlüssel zugelegt, die Arme und Beine abgetaut, die Ketten geöffnet und eine Decke so lange über den restlichen Eisblock gelegt, bis er sich von selbst befreien konnte”, fasste Katrin zusammen.
“Eine schöne Theorie”, erklärte er leicht beeindruckt, schaute sie dann aber herablassend an: “Aber beweisen kannst du sie nicht.”
“Das brauchen wir auch nicht. Wir brauchen dich nur zu einem der Santas zu bringen und die werden schon herausbekommen, ob du unartig warst Heinrich”, erinnerte ihn Carlos mit einem fiesen Grinsen.
Heinrichs Gesicht verfinsterte sich und er griff nach dem Auto, nur um es kurz danach Carlos an die Stirn zu werfen und in die andere Richtung davonzulaufen. Doch weit kam er nicht. Direkt neben ihm zerbarst ein Fenster und der Krampus sprang auf das Fließband, beäugte ihn wie ein Jäger seine Beute.
“Nein, nein, nein! Du sollst ihn bestrafen! Nicht mich! Er hat es verdient!”, schrie Heinrich den Krampus an, doch das interessierte das Monstrum nicht. Er sprang vom Fließband und ging gemächlich auf ihn zu, seine Hufen klackten laut auf dem Fliesenboden, ein tiefes Knurren drang aus seiner Kehle. Katrin war erstarrt und auch Carlos presste nur die Hand an seine Stirn. Blut tropfte aus einer Wunde an seiner Schläfe. Sie mussten etwas tun. Sie konnte nicht zulassen, dass der Krampus Heinrich tötete. Aber sie wusste nicht, wie sie ihn aufhalten konnten. Stattdessen schubste sie Carlos zu Boden, damit sie aus dem möglichen Blickfeld verschwanden. Wenn sie schon nichts für Heinrich tun konnte, dann musste sie wenigstens Carlos beschützen, den sie mit reingezogen hatte. Unter dem Fließband hindurch sah sie, dass Heinrich sich nicht mehr bewegte, er war wie eingefroren, während der Krampus immer weiter auf ihn zuging. Sie musste den anderen Bescheid geben. Sie griff nach ihrem Handy, nur um festzustellen, dass sie es in ihrem Zimmer hatte liegen lassen. Wunderbar. Sie brauchte etwas das Krach machte, etwas Lautes, etwas – ihr Blick fiel auf eine Handglocke, die zusammen mit anderen Kleinigkeiten im Regal neben Carlos stand, der zu benommen war, um sich zu bewegen. Sie griff an ihm vorbei und begann, so laut sie konnte damit zu läuten.

Kaum hatte sich der erste Ton aus dem Metall gelöst, so stoppte der Krampus. Seine Hände legten sich über seine Ohren und mehr und mehr krümmte er sich bis seine Stirn den Boden berührte. Sein erbärmliches Brüllen hallte durch die Fabrik. Als Katrin das sah hörte sie nicht auf die Glocke zu läuten und versuchte ihn so in Schach halten, bis endlich Hilfe kam, doch bald schon begann sich Angstschweiß auf ihren Händen auszubreiten.
Heinrich war derweil in sich zusammengesunken. Katrin starrte unter dem Fließband hindurch auf den Krampus und bemerkte nicht, wie Nicholas im Raum erschien.
Dieser nahm die Szene vor sich auf. Noch war der Krampus wehrlos, noch könnten sie ihn bändigen und zurück ins Eis sperren. Doch während er überlegte, wie er ihn am besten festhalten konnte bis seine Geschwister kamen, rutschte Katrin die Glocke aus der mittlerweile schwitzigen Hand und landete mit letzten verklingenden Tönen unter dem Rollcontainer am Ende des Fließbandes.

Verängstigt ließ Katrin sich auf den Boden fallen und angelte danach, doch sie konnte sie nicht erreichen. Sogleich rappelte der Krampus sich auf und setzte an in Katrins Richtung zu springen. Doch weit kam er nicht. Sein Bein machte einen letzten Schritt, dann sackte er der Länge nach zu Boden, ein großer Eiszapfen ragte aus seinem Rücken.
“Es ist vorbei…”, verkündete Nicholas, die Hand noch halb im Wurf. Sein Herz und seine Gedanken rasten. Panik stieg in ihm auf. Was wenn er dadurch eines seiner Geschwister, schlimmer, einen seiner Neffen dazu verdammt hatte, der nächste Krampus zu werden?
Vorsichtig lugte Katrin unter dem Fließband hervor. Vor ihr schrumpfte der haarige Körper und sie sah weg. Sie wollte nicht mit ansehen, wie aus dem Monster wieder ein Mensch wurde.

Bald darauf erschienen Nicholas’ Geschwister.
“Bist du von allen guten Geistern verlassen?”, fragte Nick aufgebracht, als er den Krampus sah, “Verstehst du das unter NICHT töten? Ist dir überhaupt klar, was du dadurch angerichtet hast?!”
“Ich-ich…”, setzte Nicholas an, aber brachte keinen Ton mehr raus. Wie ein Häufchen Elend kniete er vor der Leiche.
“Es ist meine Schuld. Er hat mich beschützt”, mischte Katrin sich ein, die sich damit abgelenkt hatte, Carlos’ Wunde so gut es ging zu versorgen, um nicht den toten Körper ansehen zu müssen.
“Das alles ist deine Schuld!”, fuhr Nick nun sie an, “Wärst du doch bloß nie hergekommen!”
“Sei still!”, befahl Nicole ihrem jüngeren Bruder, “Es ist nicht ihre Schuld, dass jemand die Gelegenheit nutzt um sowas abzuziehen!”
“Nicht jemand. Heinrich”, offenbarte Katrin und deutete vage in die Richtung ihres Verdächtigen.
Nicole beugte sich zu ihm und prüfte seinen Puls und sah dabei, was er getan hatte. “Verdammte Scheiße…”, kommentierte sie und strich sich über das Gesicht. Sie sah sich kurz in der Fabrik um und holte schließlich eine Plane aus einem Regal und legte sie über den Leichnam. “Nick reiß dich zusammen und geh Klaus holen! Sag ihm was passiert ist”, befahl sie ihrem Bruder, während sie sich zu ihrem jüngsten hinkniete.
Nick wollte widersprechen, beließ es aber bei einem Schnauben und verschwand.
“Alles gut bei dir, Kleiner?”, fragte Nicole vorsichtig und legte ihrem Bruder einen Arm um die Schulter. Nicholas schüttelte nur seinen Kopf und starrte weiter auf die Hand mit der er den Eiszapfen geworfen hatte. Nicole zog ihren Bruder in eine feste Umarmung und sogleich begann dieser zu schluchzen und krallte sich an sie, ganz so, als wäre er wieder ein kleiner Junge und seine Brüder hätten ihm einen fiesen Streich gespielt. Zärtlich strich sie ihm über den Rücken und die Haare um ihn zu beruhigen. “Alles wird gut, Kleiner, wir schaffen das”, versicherte sie ihm wieder und wieder.

Als er sich etwas gefasst hatte, zwang sie ihn aufzustehen und mit ihr zum Ausgang zu gehen. Er schlurfte mehr, als das er ging und Nicole bugsierte ihn mit einem Arm auf seinem Rücken. Katrin sprang auf und stellte sich den beiden in den Weg. Ohne Vorwarnung schlang sie ihre Arme um Nicholas. “Danke.” Ihr ging es nicht aus dem Kopf, dass er für sie ein Leben genommen hatte, auch wenn sie gerade nicht darüber nachdenken wollte. Dennoch wollte sie ihm zumindest zeigen, dass sie dankbar dafür war, dass sie ihres noch hatte.
“Wofür? Dass ich einen aus meiner Familie dazu verdammt habe zum Krampus zu werden?”, erwiderte er bitter und mit trockener Kehle.
“Dafür, dass du mir – uns”, sie deutete auf Carlos, der noch immer etwas benommen am Regal lehnte, “das Leben gerettet hast.”
Nicholas sah die beiden an und dann zur Seite. “Zu welchem Preis?”, murmelte er nur und wandte sich ab. Er hatte versagt. Er wollte seine Familie schützen, Katrin beschützen und hatte doch alles viel schlimmer gemacht. Nicole blickte kurz zu den beiden, dann kümmerte sie sich wieder um ihren Bruder, den sie einfach nur aus der Fabrik raus haben wollte. Katrin wandte sich schließlich Carlos zu und half ihm auf die Beine.
“Es gibt hier bestimmt irgendwo eine Krankenstation, oder?”, fragte sie ihn in der Hoffnung, er wäre noch – oder wieder – klar genug, ihr den Weg zu beschreiben.
“Ja, da links”, sagte er und deutete nach rechts.

Nachdem Carlos versorgt war, traute Katrin sich nicht die Familie zu stören und verzog sich in ihr Zimmer, in der Hoffnung sie würde geholt werden, wenn sie gebraucht wurde. Stattdessen wurde ihr gegen Mittag eine Portion Essen gebracht, aber der Wächter reagierte nicht auf ihre Fragen.

Endlich, als es Abend wurde, holte Nicole sie und brachte sie ins Wohnzimmer.
“Erzähl uns was geschehen ist”, forderte Nikolai sie auf. Er klang nicht wütend, aber auch sonst schwangen keine Emotionen in seiner Stimme mit, was es noch wesentlich schlimmer machte.
Katrin holte tief Luft bevor sie alles erzählte. Vom Gespräch mit Nikolaus, von der Konfrontation Heinrichs, vom Erscheinen des Krampus bis zum bitteren Ende.
“Woher wusstest du, dass die Glocke ihn aufhalten würde?”, hakte Nikolai nach.
“Wusste ich nicht, ich habe nur nach etwas Lautem gesucht, um auf uns aufmerksam zu machen. Im Nachhinein betrachtet war es eine dumme Idee, da ich ihn dadurch auch hätte ablenken können, sodass er uns stattdessen angreift…”, dachte Katrin laut nach.
“Ich glaube nicht, dass er euch angegriffen hätte”, merkte Klaus an, dessen Bein bandagiert auf einem kleinen Hocker ruhte. “So wie ich das verstehe, hat er sich nur dir zugewandt, weil das Glockenläuten ihn gestört hat. Du fällst nicht in sein Beuteschema.”
“Das heißt, hätte ich nicht durch Zufall seine Schwachstelle gefunden, hätte Nicholas ihn nicht -” Sie konnte nicht weiter reden. Nicht bei dem Anblick den Nicholas bot, wie er zusammengekauert an der Wand hockte, die Arme eng um seine angezogenen Beine geschlungen.
“Ich befürchte, wir hätten sowieso keine andere Wahl gehabt”, gestand Nikolai ein, “unsere Kräfte sind einfach nicht darauf ausgelegt, ein Wesen wie den Krampus festzuhalten, ohne ihm zu Schaden.” Er betrachtete seinen jüngsten Sohn mit einem mitleidigen Blick. “Dass das Los auf Nicholas gefallen ist, ist…bedauernswert.” Er wusste nicht, wie er es sonst ausdrücken sollte. Nicholas hatte sich schon immer Dinge viel zu sehr zu Herzen genommen und er befürchtete, dass sein Sohn noch eine ganze Weile daran zu knabbern haben würde, dass er ein Leben genommen hatte, um andere zu retten. “Alles was wir jetzt tun können, ist Entwarnung zu geben und ihm ein angemessenes Begräbnis zu geben.”
“Und einander im Auge behalten, wer in seine Hufstapfen tritt”, kommentierte Nick bitter.

Behind the Scenes

In der Ursprungsfassung dieses Kapitels gab es Carlos noch nicht, aber irgendwie hat Irina’s Postbeamter sich mehr und mehr auch in die anderen Kapitel geschlichen … auch die Reaktion auf die Tötung fiel anfangs etwas spärlich aus, das kam dann erst, als es an die Umsetzung ging.

In der Bearbeitungsphase gehörte die erste Unterhaltung von Katrin und Carlos noch mit zu diesem Kapitel, aber da es zu lang wurde und noch zu gestern gepasst hat, habe ich sie verschoben.

PoiSonPaiNter

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I’m sorry so far there is no translation of this door

PoiSonPaiNter

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