Meeting Rudolph
Ungläubig schwenkte Katrin die Tasse und das Klackern des Eiswürfels an der Keramik, hoch wie ein Weihnachtsglöckchen, ließ sie stark an ihrer Zurechnungsfähigkeit zweifeln. Das gab es doch alles nicht. Weihnachtsmänner, magische Portale, Eiszauberei wie bei Disney. Sie schloss die Augen, schüttelte den Kopf. Die Begegnung mit Nicholas und dem Schlitten war absonderlich genug gewesen. Sie hätte es als Traum, als weihnachtliche Erscheinung, der Müdigkeit, dem Buch und vielleicht der Tasse Glühwein geschuldet, abtun können. Aber das hier. Sie fasste um die Tasse und spürte, wie die Hitze des Grogs verschwunden war, ein Frösteln zog ihren Arm hinauf. Schnell stellte Katrin sie auf den Küchentisch und stand auf.
“Ich will alles sehen”, sagte sie bestimmt und sah Nicholas direkt in die Augen.
Die gerunzelte Stirn verlieh ihm für einen Moment etwas Unheimliches. Dann, als hätte er ihre einsetzende Unsicherheit bemerkt, glätteten sich seine Züge und er lächelte sie an.
“Darum bist du hier.”
Von einer Sekunde auf die andere, war die Wärme aus seinem Blick gewichen. Wäre er ein Kind, würde sie ihm einen Schluck Saft geben oder einen Mittagsschlaf anordnen. Etwas ratlos sah Katrin sich um.
“Von hier stammen also die berühmten Plätzchen deiner Mutter?”
Da war es. Ein kleiner Funke in der Iris.
“Ja, die allerbesten auf der Welt. Wenn es nach den Wichteln ginge, würde sie den ganzen Tag nur in der Küche stehen. So müssen sie aber wohl oder übel auch mal mit denen vorlieb nehmen, die die Kinder ihnen hinstellen, oder Kindergärtnerinnen, die ebenso neugierig wie ihre Schützlinge sind.”
Die Hitze schoss in ihre Wangen, aber Katrin musste lachen. Nichts hatte sie bisher so neugierig werden lassen, wie dieses Geheimnis, in das sie eingetaucht war. Nicholas sprang auf und klatschte in die Hände. Der trübe Moment war verflogen und sein Gesicht strahlte geradezu.
“Also, womit willst du Anfangen?”
“Die Spielzeugfabrik”, antwortete Katrin wie aus der Pistole geschossen. Wie oft hatte sie sich das vorgestellt? Tausende Filme waren voll mit großartigen Szenen, bastelnden Elfen, tüftelnden Yetis und geschickten Wichteln. Sie wollte fliegende Eisenbahnen und frisch bemalte Puppen, einzigartige Schaukelpferde und zauberhafte Spieluhren sehen.
Nicholas biss sich auf die Lippe und senkte den Blick.
“Was?”, fragte Katrin.
Er presste die Lippen aufeinander und sie hörte sein ersticktes Lachen. Natürlich wollte sie die Fabrik sehen, was auch sonst. Die ganze Welt war noch neugieriger auf die Spielzeugherstellung als auf den Weihnachtsmann selbst. Trotzdem wollte er sie nicht auslachen. Es war nur so vorhersehbar. Also sagte er erst einmal nichts, versuchte, das Lachen zu unterdrücken und ihr Zeit zu geben, darüber nachzudenken.
Katrin musste sich eingestehen, dass sie zwar furchtbar neugierig war, aber ihre Erwartungen auch furchtbar verzogen. Das Treffen mit Nicholas, die Reise durch das Portal, magische Eiswürfel, wenn es das alles gab, war die Möglichkeit einer geheimen Spielzeugfabrik so naheliegend gewesen. Aber warum eigentlich? Weil man es ihr jahrelang eingetrichtert hatte. Sie atmete aus und versuchte alle Vorurteile, Erwartungen und Beeinflussungen los zu lassen. Nicholas war so anders, als sie sich einen Weihnachtsmann je vorgestellt hatte. Und sein Schlitten erst.
Ein Lächeln fand den Weg auf ihr Gesicht. Sie wusste, wo sie anfangen wollte.
“Zeig mir doch die Schlitten und Rentiere. Das letzte Mal hab ich im Dunklen ja nur einen Teil erkennen können.”
Nicholas lachte auf, verbeugte sich tief vor ihr und konnte doch sein Grinsen nicht verbergen.
“Ihr Wunsch ist mir Befehl.”
Gentlemanlike bot er ihr den Arm an und sie spielte mit, knickste, warf einen imaginären Rock zurück. Gemeinsam gingen sie hinaus.
Die Garage für die Schlitten lag rechts vom Haus, dahinter erkannte Katrin einen großen Stall. Der Geruch von Stroh, feuchtem Heu und Tier lag in der Luft, warm, belebend und doch fremd. Nicholas führte sie zuerst dorthin. Katrin war als Kind geritten, doch der Duft nach Rentier übertraf den der Pferde bei weitem. Herb und wie frisch aus einem Winterwald bereitete er sie auf das vor, was hinter der Stalltür lag.
Nicholas musste ihren Arm loslassen, um die komplizierte Verriegelung zu lösen und das Tor zu öffnen. Sofort intensivierte sich der Geruch und rauschte Katrin heiß um die Ohren. Hufe schlugen aufgeregt an Holz, ein Schnauben stieg auf, ein Dröhnen erklang, das den Boden zum Vibrieren brachte.
“Wie viele Rentiere habt ihr?”, fragte Katrin ehrfurchtsvoll. Leichte Panik flammte in ihr auf. Aus der Ferne an einen Schlitten gebunden war es das eine, hier aus nächster Nähe etwas ganz anderes, die imposanten Tiere zu sehen.
“Momentan haben wir vierzig, aber fünf davon sind noch Jungtiere und müssen erst ausgebildet werden.”
“Und die anderen?”
Nicholas blieb stehen und deutete auf eine Kabine. Katrin wagte einen vorsichtigen Blick über das Holz und blickte auf ein Babyrentier, das sich an den Körper eines großen kuschelte.
“Das ist Stella. Sie stand noch vor meinem Schlitten, als ich mir die Bürste bei dir ausgeliehen habe. Als ich zwei Wochen später merkte, dass sie schwanger ist, hab ich mich furchtbar geärgert, ihr den Abend zugemutet zu haben. Wir haben immer ein paar Tiere, die einspringen können, wenn eines ausfällt. Und alle stammen sie von denen ab, die du aus dem Weihnachtsgedicht kennst.”
“Ähhh”, gab Katrin von sich. Einerseits, weil der Anblick des Jungen, wie es den Kopf der Mutter anstupste und sie ihm einen typisch mütterlichen “jetzt warte doch mal” Blick zuwarf ein wirklich beruhigendes Bild bot. Vor allem aber, weil sie das Gedicht nicht kannte. Sie wusste, es gab ein englisches, aber sie hatte es nie gelernt oder gelesen.
“Du meinst das mit Rudolph?”, fragte sie darum vorsichtig. Nicholas prustete los, wie auf Kommando ertönte ein Hufgeklapper und Grummeln rings um sie. Mit etwas Beherrschung kam Nicholas wieder zur Ruhe, schnalzte mit der Zunge und auch die Rentiere beruhigten sich nach einem Moment. “Rudolph mit der roten Nase? Den hat es nie gegeben. Wir haben aber einmal ein Rentier Rudolph genannt. Man weiß ja nie was passiert. Er steht da hinten und ist ein ziemlich fauler Kerl. Wenn es nach ihm geht, würden alle nur noch mit elektrischen Schlitten fahren.”
Wie selbstverständlich griff der Weihnachtsmann nach Katrins Hand und zog sie mit sich. Aus der hintersten Box war weder Hufgeschabe noch Röhren zu hören und als sie hinein sah, stand dort ein rundliches Rentier und fraß gemächlich, ohne sich an dem ungewohnten Gast zu stören.
“Keine rote Nase”, stellte sie fest. “Keine rote Nase”, bestätigte Nicholas.
“The night before Christmas ist ein ziemlich altes Gedicht von Clement Moore, erschienen 1823. Jedenfalls wurde es ihm später angerechnet. Erschienen ist es ursprünglich anonym.”
Katrin konnte es kaum glauben. “Du meinst…”
“Jap, einer von uns, also von unseren Vorfahren, hat da zumindest mitgeholfen. So genau wissen wir es auch nicht. Aber die Namen waren original die des Obersten Santas zu der Zeit. Comet, Cuped, Donner, Blitzen, Prancer, Vixen, Dasher und Dancer. Drei Weibchen und fünf Männchen, und dann kamen wie auch jetzt noch weitere dazu. Damals waren es etwa zwanzig. Und von diesen Rentieren stammen alle ab, die du hier siehst. Stella ist die Ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-Enkelin von Comet, die damals noch ganz jung war. Ab und zu müssen wir einen Bock oder eine Kuh dazu holen, die sind dann aber speziell zum Decken und Tragen gedacht. Fliegen können sie nicht.”
“Und er”, Katrin deutete auf Rudolph, der kaute, als wäre es seine einzige Lebensaufgabe.
“Er könnte wohl, aber wenn er dann auch noch den Schlitten tragen müsste, käme er kaum über Norwegen hinweg. Wir spannen ihn nur zum Training oder für kurze Strecken vor den Schlitten, damit er im absoluten Notfall einspringen kann.”
Sie gingen weiter und Nicholas stellte Katrin jedes Rentier vor, erklärte, von wem es abstammte und was es besonders gut konnte. Tango etwa war ein Alphatier. Er wollte vorne stehen und fand auch immer den Weg. Aber wenn etwas Unvorhergesehenes eintrat, war er der erste, der nicht weiter wusste. Shadow dagegen hielt sich gerne im Hintergrund und brachte die anderen doch immer dazu, genau zu tun, was er wollte. Er war wie eine Geheimwaffe. Blanca hatte eine außergewöhnliche Kondition und war darum bei schwierigen Strecken immer dabei.
Als sie den Stall wieder verließen, hatte Katrin jede Angst gegenüber den Tieren abgelegt. Sie hatte Lucifer, den kleinen Racker der Bande, gestriegelt und fand, dass es auch nicht groß anders war, wie die Arbeit mit Kindern. Man mussten den Biestern immer einen Schritt voraus sein.
“Kaum zu glauben, dass du die alle unterscheiden kannst”, gab Katrin zu, als Nicholas die aufwendigen Schlösser wieder an der Stalltür befestigten. Um den Tieren mehr Auslauf zu bieten, waren nur die Neugeborenen und Spezialfälle wie Rudolph in eigenen Boxen. Die anderen teilten sich einen großen Bereich, der Rückzugsorte, aber vor allem Platz bot. Darum war es auch so wichtig, mehrmals am Tag nach den Tieren zu sehen und dafür zu sorgen, dass keines krank war oder einfach mal Ruhe brauchte. Hinter dem Stall war außerdem eine riesige Koppel, auf der die Rentiere nach herzenslust balgen konnten. Nachdem Nicholas die Vorstellungsrunde beendet hatte, drückte er zwei Riegel, ein Tor sprang auf und die Tiere huschten auf die eingezäunte Wiese. Auch Rudolphs Tor war aufgegangen, doch der Dicke widmete sich nach dem Fressen einem ausgiebigen Mittagsschlaf.
Behind the Scenes
Das heutige Gastkapitel entstammt der Feder der wortgewandten Eva-Maria Obermann. Schon mit ihrer Mär fürs Volk begeisterte sie während des Märchensommers, heute stellt sie uns ein paar besondere Rentiere vor. Morgen nimmt uns noch auf ein kleines Abenteuer mit und bald wird sie uns an einen noch viel magischeren Ort führen. 😉
The Night Before Christmas ist übrigens ein vor allem im englischen Sprachraum verbreitetes Weihnachtsgedicht, dessen Beschreibung vom Weihnachtsmann dessen Aussehen maßgeblich geprägt hat. Wer nachlesen möchte, kann das z.B. hier auf Englisch tun: Twas the Night before Christmas oder auf Deutsch hier, in einer Übersetzung von Kinderbuch-Autor Erich Kästner: The Night before Christmas (inklusive Übersetzung der Rentiernamen). Laut Wiki ist der eigentliche Titel übrigens A Visit from St. Nick, find‘ ich irgendwie passend in Hinblick auf diese Geschichte. 😉
PoiSonPaiNter
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PoiSonPaiNter
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