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Adventskalender: Türchen #20

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Eine verdammt gute Ausrede

Nicole schnaubte etwas von „Viel Erfolg“ und „Ich hoffe, du hast mehr Glück als ich“ und blieb dann am Eingang bei den Druckerpressen zurück. Katrin war es nur Recht. Es würde einfacher sein, offen mit Nicholas zu reden, wenn sie das nicht mit sarkastischen Zwischeneinwürfen seiner Schwester tun mussten.

Schummrige Lichter, tausende und abertausende von Buchrücken und der Geruch nach altem, schwerem Papier empfingen Katrin im hinteren Teil der Bibliothek wie alte Bekannte, die sie gerade erst verlassen hatte. Doch sie hatte keine Zeit für andächtiges Staunen und verträumtes Umherstreifen zwischen den Regalen. Sie hastete durch die Gänge ohne einen weiteren Blick für die Wunder ringsum. Wenn sie nach links oder rechts sah, dann lediglich in der Hoffnung, dort Nicholas‘ vertrauten Rücken sehen zu können. Es fiel ihr schwer, sich zu orientieren, wo sie doch beim ersten Mal nur den Weg hinaus, nicht jedoch hinein kennengelernt hatte.

Sie fand ihn schließlich im hintersten Winkel der Bibliothek, als hätte er sich wie ein Murmeltier in Angst vor dem Wintereinbruch zurückgezogen. Schon über seine Schulter hinweg, konnte sie die Unmengen an Bücherstapeln und leuchtenden Laptopbildschirmen sehen, die er vor sich auf dem Tisch positioniert hatte. Wie er in allen gleichzeitig lesen konnte, war ihr ein Rätsel.
Kurz hielt sie inne und versuchte, zu Atem zu kommen. „Nicholas?“, fragte sie dann vorsichtig.
Sie konnte sehen, wie sich seine Schultern verkrampften. Er musste ihre Stimme erkannt haben. Und doch… Und doch drehte er sich nicht um.
Zögernd ging Katrin auf ihn zu. Was, wenn er sie nicht hierhaben wollte? Wenn er doch sauer war wegen des Krampus-Zwischenfalls? Wenn er sich absichtlich nicht gemeldet hatte und Nicole ihm nur einen bösen Streich spielte?
„Tut mir leid“, erklärte sie vorsichtig, während sie nähertrat. „Ich will gar nicht stören. Sieht aus, als hättest du viel zu tun. Aber Nicole sagte…“
Statt sie anzusehen, drehte er den Kopf schief weg, sodass sie wieder nur seinen Hinterkopf anblickte. „Geh weg.“ Es klang beinahe wie ein Knurren. Noch nie hatte Katrin einen derartig verzerrten Klang aus dem Mund eines Menschen vernommen. Noch nie –
Doch dann sah sie wieder den haarigen Körper vor sich, wie er sich aufrappelte und die Muskeln anspannte, bereit, sich auf sie zu werfen, zu verletzen, zu töten…
„Oh nein!“
Sie hatte es gar nicht sagen wollen, doch die Worte entwichen ihr in einem einzigen Luftschwall. Instinktiv stolperte sie vor und griff nach Nicholas‘ Händen – sie waren krallenfrei. Dann streckte sie die Hand um ihn herum nach seinem Kinn aus… und obwohl er dem Druck ihrer Finger nicht nachgab, das Gesicht nicht drehte, konnte sie doch das krause Haar fühlen. Es war zu dicht und zu weich, um es für einen Bart halten zu können.
Wie hatte sie ihm jemals insgeheim vorwerfen können, dass er sich hätte melden müssen? Dass er ihre Verabredung nicht einfach fallen lassen konnte, egal wie wütend er auf sie sein mochte? Sie hätte wissen müssen, dass er einen triftigen Grund gehabt hatte, nicht zu kommen.
„Es tut mir so leid.“ Ohne drüber nachzudenken schlang Katrin die Arme seitlich um seine Schultern und zog ihn in eine Umarmung. Er blieb steif und abwehrend unter ihrer Berührung – aber immerhin, er entzog sich ihr auch nicht.
„Was?“, fragte er mit seiner neuen Raspelstimme.
„Ich hatte ja keine Ahnung! Ich… Wie lange ist das schon so? Wie fühlt sich das für dich an? Wie schnell breitet es sich aus?“
Er schwieg.
„Ist es… Das war zu viel auf einmal, oder?“ Vorsichtig ließ sie ihn los. Sah sich um und zog sich dann einen der Stühle heran, um sich neben ihn zu setzen. Dann wartete sie. Versuchte den eigenen aufgeregten Herzschlag zu beruhigen, all die Fragen auszublenden, die ihren Verstand bestürmten, versuchte nur auf seine Reaktion zu achten.
Und dann, langsam, nachdem ihm wohl aufgegangen war, dass sie nicht weggehen würde, wandte er den Kopf.
Sein Kinn, eine Wange und die Hälfte seiner Stirn waren von dunklem, dichtem Fell überzogen. Eines seiner Augen war gelb. Und jetzt konnte sie auch das kurze Horn sehen, dass sich aus seinen Kopf herauswand. Ein Horn!
Nicholas sah sie an, als würde er damit rechnen, dass sie jeden Moment aufsprang und davonrannte.
„Darf ich…“ Sie räusperte sich. „Ich würde gerne wissen, wie sich das Horn anfühlt. Ist das unhöflich oder dürfte ich es mal…“
Die bärige Seite seines Mundwinkels rutschte ein Stück nach oben.
„Bitte…?“
„Ein halbes Jahr und du hast dich anscheinend kein Bisschen verändert.“
„Und du hast dich anscheinend seitdem nicht mehr rasiert!“
Der zweite Mundwinkel folgte. Dann sanken beide wieder herab. „Du solltest besser gehen.“
„Mache ich dir Angst?“
„Du mir?“
„Du duckst dich weg, wenn ich komme. Du kannst mich kaum ansehen. Du willst, dass ich gehe…“
„Hast du denn keine Angst?“
„Sehr große sogar! Ich will nicht zurückkehren müssen und dich dann erst nächstes Jahr wiedersehen dürfen.“
„Aber ich bin gefährlich!“
Katrin schüttelte den Kopf. „Unsinn. Vielleicht wirst du irgendwann – vielleicht auch nicht. Aber im Moment bist du noch nicht einmal halb verwandelt.“
„Es kommt in Schüben. Was, wenn es jeden Moment –“
„Umso wichtiger, wäre es doch, dass ich dir bei der Suche nach einem Ausweg helfe, oder?“ Sie deutete auf all die Bildschirme und aufgeschlagenen Bücher. „Was hast du bisher herausfinden können?“
„Aber –“
„Ich würde gerne helfen. Wirklich. Irgendwie schulde ich es dir auch, immerhin hast du mir vor einem halben Jahr das Leben gerettet.“
„Das ist nicht –“
„Nur deswegen musste einer von euch zum neuen Krampus werden!“
„Katrin!“ Nicholas krallte die Hände in die Haare, erwischte dabei das Horn – und brach es mit einem Ruck ab, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. „Das damals war allein mein Fehler! Ich habe dich hierher gebracht, ich hab dich dieser Gefahr ausgesetzt. Also schuldest du mir gar nichts, denn ohne mich wärst du gar nicht erst in diese Lage geraten!“
Einen Moment konnte sie nicht anders, als auf das Horn starren, das er zu Boden fallen lassen hatte, wie einen Fingernagelschnipsel. Dann riss sie sich zusammen und sah ihm fest ins Gesicht. „Ich bin ein erwachsener Mensch und treffe freie Entscheidungen. Ich hätte dir nicht folgen müssen, aber ich wollte es und ich würde es wieder tun. Und ich hätte auch heute nicht Nicole folgen müssen, aber ich wollte es.“
„Aber –“
„Denkst du etwa, ich könnte jetzt einfach zurückkehren und Däumchen drehen, während für dich die Zeit tickt? Könntest du das?“
„Katrin…“
„Na also!“ Entschlossen beugte sie sich vor und suchte in dem Chaos aus Büchern nach seinen Notizen. „Dann zeig mal her, was du bisher gefunden hast.“

Behind the Scenes

Die Fortsetzung von Anne Dancks gestrigem Kapitel. Das Bild wie Nicholas einfach dasitzt und das Horn abbricht war für mich eines der Dinge, die ich für dieses („damals“ noch Teil-)Kapitel am meisten im Kopf hatte. Es ist irgendwie so eine schöne Mischung aus kindlichem Trotz und Resignation. Ich finde Anne hat das sehr gut umgesetzt.

Hat eigentlich die Andeutung aus Irina’s Abschiedskapitel schon gereicht, um diese Wendung vorhersehbar zu machen?

PoiSonPaiNter

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I’m sorry so far there is no translation of this door

PoiSonPaiNter

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