Unbekannte Welten

Erschöpft von der Arbeit kämpfte sie sich durch den Regen. Es hatte den ganzen Tag nicht aufhören wollen. Schwer fielen die Tropfen auf ihre bereits durchnässte Kleidung und kühlten ihren Körper immer weiter ab. Sie fror wie im tiefsten Winter, auch wenn sie nur ein paar Meter in der Kälte gewesen war.
Immer schneller eilte sie ihrem ersehnten Ziel entgegen. Dem Ort an dem sie am liebsten ihre Nachmittage verbrachte – besonders an Tagen, die so ungemütlich waren wie dieser. Schon von weitem konnte sie den Schein der Fenster sehen und ihre Stimmung hellte sich unweigerlich auf. Noch einmal beschleunigte sie ihre Schritte, sprang die wenigen Stufen zum Eingang hinauf und öffnete die alten Schwingtüren. Sie brauchte nur einen Schritt durch sie hindurch zu machen und schon durchströmte wohlige Wärme ihren Körper. Alle Lasten des Alltags fielen von ihr ab und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

Vorsichtig stellte sie ihre Tasche ab, die sie eben noch eng an sich gedrückt hatte. Als sie gerade dabei war ihre Jacke auszuziehen kam ihr auch schon eine der Damen vom Empfang entgegen.
„Das ist aber auch ein Unwetter…“, beschwerte sie sich und tauschte die nasse Jacke gegen ein Handtuch.
„Danke.“ erwiderte sie nur und trocknete sich etwas ab.
„Ich werde die mal aufhängen, du weißt ja wo du sie findest.“, verabschiedete sich die andere Frau.
Noch immer lächelnd hob sie ihre Tasche auf und machte sich auf den Weg zu ihrem Lieblingsplatz.
Jeder kannte sie und sie kannte jeden. Sie waren über die Zeit eine Art Familie geworden.
Wie immer schlenderte sie durch die Gänge, auf der Suche nach neuer Lektüre. Hier und da nahm sie ein Buch und betrachtete es näher. Las den Klapptext oder blätterte darin. Wenn es ihr zusagte, nahm sie ihren Block, den sie immer bei sich trug, und schrieb sich den Titel auf. Die Liste der Bücher, die sie als nächstes Lesen würde. Und diese wurde immer länger. Sie fand viel zu viele interessante Bücher hier, als dass sie sie alle lesen konnte. Nicht mit dem bisschen Zeit, das ihr zur Verfügung stand.
Zufrieden mit ihren heutigen Funden machte sie sich auf den Weg zu ihrem Lieblingsplatz.

Nichtsdestotrotz ließ sie weiterhin ihren Blick durch die Regale schweifen. Es gab viel zu viel zu entdecken um nicht zu schauen.
Ihr Ziel war eine Leseecke, wie sie gemütlicher nicht sein könnte. Beim Bau dieser heiligen Hallen des Wissens, wie sie die Bibliothek gerne nannte, wurden mehrere Kachelöfen installiert. Nur einer hatte es bis jetzt überlebt. Er stand abgeschieden von den Regalreihen und wurde erst vor kurzem wieder in Betrieb genommen. Eine flauschige Couch hatte man an seine Seite gestellt, sowie einem passenden Tisch und mehrere Sessel. Es war der wärmste Ort des Gebäudes und gerade an einem so verregneten Tag eine Stätte der Zuflucht. Viele Leute trauten sich in diesem Regen nicht nach draußen, deswegen hatte sie ihn trotzdem ganz für sich.

Schnell hatte sie es sich auf dem Sessel neben dem Ofen gemütlich gemacht und das Buch, das sie gerade las aus ihrer Tasche geholt. Sie war froh, dass der Regen es nicht beschädigt hatte. Gedankenverloren betrachtete sie erneut den Umschlag. Schon so oft hatte sie einfach nur da gesessen und das Buch angeschaut. Das Cover war schlicht und eher altmodisch gehalten, dennoch faszinierte es sie noch immer. Vorsichtig strich sie über die leicht hervorstehende Schrift.
Für sie waren es nicht nur Buchstaben. Es war ihre Eintrittskarte in eine andere Welt.
Sie hatte das Buch ausgeliehen, damit niemand sie in ihrem Lesefluss unterbrechen konnte und obwohl sie auch zu Hause darin las, war es nicht das Gleiche.
Nur hier erwachte die Geschichte für sie zum Leben, umhüllte sie wie ein Mantel und nahm sie mit auf eine Reise in unbekannte Welten.
Andächtig lies sie ihren Blick über die Regalreihen schweifen während ihre Hand noch immer auf dem Einband ruhte. Dies war der Ort an dem sie Ruhe und auch ein Stück Geborgenheit in der Hektik ihres Lebens fand.
Tief atmete sie ein, sog den Duft der sie umgab ein. Den Duft von Hunderten von neuen und alten Büchern. Eingereiht und katalogisiert. Wissen und Geschichten auf engstem Raum zusammengebracht. Es wirkte riesig, wirkte als könnte man hier Jahre, Jahrzehnte, ja gar Jahrhunderte verbringen und würde immer wieder etwas Neues entdecken.
Ein Autor hatte einmal geschrieben, dass Worte Macht besaßen. Die Macht Dinge geschehen zu lassen, wenn viele von ihnen an einem Ort waren.
Sie war sich sicher, dass es nicht nur eine Theorie aus einer Geschichte war.
Sie konnte die Macht der Worte, die Macht der Bücher regelrecht spüren. Jedes Mal aufs Neue, wenn sie diesen Ort betrat. Und erst recht wenn sie zu lesen begann. Denn sie las die Bücher nicht nur, sie erlebte sie. Und nur hier konnte sie das. Nur hier entführte die Macht der Worte sie in unbekannte Welten.

Andächtig öffnete sie den Buchdeckel und kam bald zu der Stelle an der sie zuletzt aufgehört hatte. Sie atmete noch einmal tief durch, dann begann sie zu lesen.
Kaum hatte sie angefangen veränderte sich ihre Umgebung. Das Knistern des Ofens wurde zu einem knisternden Lagerfeuer. Um sie herum begann die Bibliothek zu verschwinden, veränderte sich in eine andere Landschaft. Unter ihren Füßen spürte sie das Gras eines Feldes. Die Couch wurde zu einem alten Baumstamm. Anstelle der hohen Regale sah sie in der Ferne hohe Eichen, die die Ebene umsäumten. Das gedämmte Licht wich dämmerndem Abendrot. Um sie herum saßen ihre lieb gewonnenen Charaktere am Lagerfeuer und begrüßten sie mit einem Lächeln. Sie hatten bereits auf sie gewartet. So wie auch sie darauf gewartet hatte sie wieder zu sehen.
„Schön, dass du wieder da bist. Soll ich dort weiter erzählen, wo wir zuletzt aufgehört haben?“, fragte einer von ihnen.
Sie erwiderte das Lächeln und nickte nur kurz.
In seiner klaren Stimme begann der Barde zu erzählen.
Er erzählte davon wie ihr Kampf gegen den tyrannischen König voran geschritten war. Was seit ihrer letzten Begegnung gut und was schief gelaufen war. Er erzählte von Missgeschicken und Albernheiten, von Streit und Einigungen. Er malte alles bis ins kleinste Detail aus und die Flammen webten die Bilder von denen er sprach. Sie konnte ihm stundenlang zuhören ohne müde zu werden.
„Es wird Zeit für dich zu gehen“, mahnte ein anderer Charakter.
„Aber ich bin doch gerade erst gekommen!“, protestierte sie.
„Du weißt was passiert wenn du zu lange hier bleibst“, erinnerte sie ein Dritter bedächtig.
„Aber…“
„Kein Aber. Kehre in deine Welt zurück“, befahl der große Krieger nun.
So sehr sie sich auch danach sehnte mehr zu hören, mehr zu sehen, es blieb ihr vergönnt. Die anderen begannen allmählich zu verblassen und auch ihre Stimmen vernahm sie nur noch spärlich. Wie aus einem tiefen Traum erwachend begann sich die Landschaft langsam wieder zurückzubilden und in ihre ursprüngliche Form zurückzukehren.
Sie war nicht länger inmitten der Geschichte, war nicht länger bei ihren Freunden.
Mit geschlossenen Augen klappte sie das Buch zu und verweilte. Verloren in den Erinnerungen an das Geschehene saß sie einfach nur da.

Sie wusste, dass sie wieder in ihr richtiges Leben zurückkehren musste. Sie wusste, was es bedeutete zu sehr in eine Geschichte einzutauchen. Es wurde ihr schon oft erklärt. Würde sie länger bleiben, würde sie die Geschichte verändern. Sie würde ein Teil von ihr werden. Bei so mancher Geschichte hätte sie es gerne geschehen lassen, aber sie wusste auch, dass es dann kein zurück mehr für sie geben würde. Sie wäre gefangen. Würde aufhören in der realen Welt zu existieren und einfach vergessen werden. So sehr wie sie unter Freunden sein wollte, so sehr wollte sie auch Neues kennen lernen. Wollte sich nicht beschränken auf eine Geschichte. Wollte mehr lesen. Mehr lernen. Und dafür musste sie bleiben, weiter existieren, auch wenn es manchmal schwer fiel.
Mit einem wehmütigen Seufzen packte sie das Buch ein um sich auf den Heimweg zu machen.

Am Eingang angekommen holte sie ihre Jacke und verabschiedete sich von den Bibliothekarinnen. Sie war lange hier gewesen und einige von ihnen waren bereits nach Hause gegangen.
An der Tür blickte sie ein letztes Mal zurück. Mit etwas Phantasie konnte sie sie sehen. Die Menschen und Wesen aus den Geschichten, die darauf warteten gelesen zu werden. Einige gingen durch die Reihen, andere standen und winkten ihr zu. Mit einem leichten Lächeln erwiderte sie die Geste und drehte sich dann um.
Morgen würde sie wieder kehren und auf eine neue Reise gehen.
Morgen und an jedem anderen Tag an dem sie die Zeit fand in ihrer Phantasie zu versinken.

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