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Warum wir aus unserem MĂ€rchentĂŒmpel auftauchen mĂŒssen! – Teil 1

Heute hinterfragt Palandurwen in ihrem MÀrchensommer Gastbeitrag ein Element von u.a. einem der bekanntesten KunstmÀrchen von Hans-Christian Andersen, doch bevor sie damit richtig im zweiten Teil einsteigt, zunÀchst ein paar Grundlagen.

Das MĂ€rchensommer Banner zeigt eine Scherenschnitt-Fee, die Glitzer auf den verschnörkelten Schriftzug "MĂ€rchensommer" ĂŒber einem aufgeschlagenen Buch streut. Alles vor einer grĂŒnen Wiese neben einem Baum und Sonnenstrahlen im Hintergrund.

Warum wir aus unserem MĂ€rchentĂŒmpel auftauchen mĂŒssen!

Was sind GrĂŒnde dafĂŒr, dass wir heutzutage MĂ€rchen lesen? Die meisten antworten darauf wohl: “Schöne Kindheitserinnerungen wachrufen.” Und zu diesen Personen zĂ€hle ich mich selbst genauso. Allerdings ist da noch eine andere Seite in mir, die mit erwachsenen Augen auf diese Texte, Zeugen ihrer Zeit, schaut und zĂ€hneknirschend feststellt, dass nicht jedes StĂŒckchen davon heute so sorglos oder zumindest kommentarlos konsumiert werden kann wie frĂŒher.

Dazu gehört auf jeden Fall die in MĂ€rchen stĂ€ndig dargestellte, traditionelle Geschlechterrollen-Verteilung. GemĂ€ĂŸ Bruno Bettelheims 1977 erschienenen Klassikers “Kinder brauchen MĂ€rchen” soll diese zwar keinerlei negative Auswirkungen auf die Kinder haben. Allerdings verfolgt die moderne PĂ€dagogik inzwischen immer stĂ€rker geschlechtsneutrale AnsĂ€tze, denn sie hat in diversen Studien festgestellt, dass die mediale Darstellung von Frauen und MĂ€nnern Kinder definitiv schon von Beginn an beeinflusst und in Klischees treibt. Entsprechend gibt es immer mehr moderne MĂ€rchen, die neutrale Darstellungen ihrer Figuren wĂ€hlen. 

Vielleicht grĂŒbeln jetzt einige und finden, dass das doch gar nicht so schlimm war. Aber ich muss hier einmal den Finger in die Wunde legen, um deutlich zu machen: Doch, leider war es das. Und dessen mĂŒssen wir uns bewusst werden, um daraus zu lernen und es in Zukunft besser zu machen. Denn MĂ€rchen zeigen sehr oft stereotype und gefestigte patriarchale Strukturen, die wir alle so verinnerlicht haben, dass sie uns gar nicht mehr auffallen. Kein Wunder, denn die aufschreibenden Personen waren in den meisten FĂ€llen MĂ€nner. Und sie gestalteten die Geschichten so, wie sie es fĂŒr richtig hielten. 

In diesen ErzĂ€hlungen waren Frauen den MĂ€nnern stets entweder untergeordnet oder fĂŒr sie gefĂ€hrlich. Sie wurden als Bedrohung gezeichnet oder klein gehalten, um eine (scheinbar der Sache inhĂ€rente) Überlegenheit darzustellen. Man(n) wĂ€hlte fĂŒr Frauen Bilder, die diese Gefahr symbolisierten. Man(n) dichtete ihnen dĂ€monische KrĂ€fte an (etwa bei Hexen) oder eine allumfassende Hilflosigkeit. Frauen wurden nur positiv bewertet, wenn sie mit der Wunschvorstellung der Dichter ĂŒbereinstimmten. Ein beeindruckendes Beispiel dafĂŒr sind die beiden miteinander eng verwandten KunstmĂ€rchen “Undine” von Friedrich de la Motte FouquĂ© sowie deren Nachfolgerin “Die Kleine Meerjungfrau” von Hans Christian Andersen.

Hinein ins KĂŒhle Nass: Ursprung der Meerjungfrauen

Dies lĂ€sst sich aber bereits viel frĂŒher beobachten: So faszinierten Elemente uns Menschen schon immer. Wir stellten sie uns als belebt vor, als mĂ€chtig. Kein Wunder, waren wir ihnen doch ausgeliefert. Wir ersannen sogar Gottheiten, die mit ihnen zusammenhingen – so war etwa die griechische Aphrodite bzw. spĂ€ter im römischen Reich die Venus eine gewisse Art des Wassergeistes. Geboren aus dem Meerschaum galt sie als die Schutzherrin der Liebe, Schönheit und Sinnlichkeit. Sie konnte mit diesen Attributen aber auch gefĂ€hrlich werden, etwa wenn jemand sie reizte. 

Dieser zweischneidige Gedanke speiste viele weitere Geschichten um Wassergeister. Sie wurden oft als verlockende Wesen beschrieben. Sie konnten zwar Leben spenden, aber auch Menschen ins Verderben treiben. Und in den meisten FĂ€llen wurden sie (von den tendenziell mĂ€nnlichen ErzĂ€hlern) weiblich dargestellt. 

Ein gĂ€ngiges Beispiel sind die Sirenen. Sie waren ursprĂŒnglich zwar Mischwesen aus Menschen und Vögeln, wurden im Mittelalter aber zu halben Fischen umgedeutet. In ihnen vereinte sich die Schönheit mit der Gefahr, denn wenn die hĂŒbsch anzusehenden Halb-Frauen auftauchten und zu singen begannen, erlagen ihnen reihenweise Seefahrer. Kaum dass die MĂ€nner aber in Reichweite der vermeintlichen Jungfern kamen, rissen diese sie blitzschnell in die Tiefen des Meeres, wo sie jĂ€mmerlich starben. 

Aus heutiger Sicht sollten hier doch die Alarmglocken ringen. Denn das Narrativ der schönen, aber todbringenden Frau wird auch heute immer noch allzu gern verwendet, ist aber schlichtweg eine völlige Verzerrung der Tatsachen. Denn beispielsweise haben ca. 90 % der gewaltsamen TodesfĂ€lle in Partnerschaften Frauen zum Opfer – die TĂ€ter dabei MĂ€nner. Möglich sind solche Femizide durch nach wie vor herrschende MachtgefĂ€lle und hierarchische Unterlegenheit der weiblichen Beteiligten. Und diese Quote wird frĂŒher nicht wesentlich anders gewesen sein. 

Im Laufe der Zeit wandelten sich die Geschichten der Wassergeister allerdings. Immer hĂ€ufiger konstruierten sich auch Begebenheiten, in denen die Frau zwar das schreckliche Wesen war, aber durch einen Mann auch errettet werden konnte. Ein sehr prominentes Beispiel hierfĂŒr ist die Melusinen-Sage, welche vielfach verarbeitet wurde.

Grob zusammengefasst verlĂ€uft die ErzĂ€hlung immer nach einem Ă€hnlichen Muster: Ein Ritter trifft eine schöne Frau. Er will sie heiraten, sie stellt davor aber eine Bedingung: Wenn er sie niemals (oder nie an einem bestimmten Tage) nackt sehen wĂŒrde, kĂ€me großes GlĂŒck ĂŒber ihn. Bricht er sein Versprechen, wĂŒrde er allerdings alles verlieren. NatĂŒrlich kommt es, wie es kommen muss, und der Ritter sieht sie doch nackt im Bade. Melusine verwandelt sich wahlweise in eine Schlange oder einen Drachen und ist auf und davon samt dem GlĂŒck des Mannes.

Mal wieder wird der Fokus auf den Mann gerichtet, der wegen einer Frau Unheil erfĂ€hrt. Dass sie selbst von nun an als Monster umherirren muss, weil sie eigentlich verflucht war, ignorieren die meisten ErzĂ€hlungen. HĂ€tte der Ritter zu seinem Wort gestanden, wĂ€re die junge Frau erlöst gewesen. Es lag also nie in ihrer Absicht, ihm Schlechtes zu wollen, ganz im Gegenteil. Dennoch wird auch hier ein eigentlicher Betrug sowie eine klare Übergriffigkeit an ihr zu einem knappen Entkommen seinerseits umstilisiert.

Schwimmt nicht zu weit raus, wir sehen uns morgen mit der Fortsetzung!

Die Gastautorin

Palandurwen macht im echten Leben fĂŒr andere etwas mit Wörtern. DafĂŒr muss sie nicht einmal ihr malerisch im Elbtal, direkt an einem Weinberg gelegenes Zuhause verlassen. So kann sie sich rund um die Uhr von ihrer Katze herumkommandieren lassen, ob sie arbeitet oder in ihrem Atelier malt und scrapbookt. MĂ€rchen haben sie schon seit frĂŒhester Kindheit fasziniert und inspiriert. Doch spĂ€testens durch ihr Germanistik-Studium scheut sie sich nicht mehr, diese auch kritisch zu hinterfragen, immer mit dem Ziel, irgendwann ein eigenes verfassen zu können.

Instagram: @palandurwen
Twitch: palandurwen

Anne/PoiSonPaiNter