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Warum wir aus unserem Märchentümpel auftauchen müssen! – Teil 2

Die Grundlagen gelegt, hier nun der zweite Teil von Palandurwens Märchensommer Gastbeitrag zu den Meerjungfrauen von u.a. Hans-Christian Andersen – jetzt geht es um die Flossen!.

Das Märchensommer Banner zeigt eine Scherenschnitt-Fee, die Glitzer auf den verschnörkelten Schriftzug "Märchensommer" über einem aufgeschlagenen Buch streut. Alles vor einer grünen Wiese neben einem Baum und Sonnenstrahlen im Hintergrund.

Tief Luft holen: Die Meerjungfrauen des 19. Jahrhunderts

Frauen wurden also lange Zeit schon als Unheilbringerinnen gezeichnet. Sie galten als verführerisch, was die Männer anzog, aber gleichzeitig auch in Gefahr brachte. Sie wurden mit der Natur gleichgesetzt, u. a. eben dem Wasser. Doch genau wie bei diesem Element wollte der Mensch – um genau zu sein der Mann – auch die Frau als für ihn nutzbar gestalten, sie kontrollieren und dadurch seine Macht demonstrieren. 

Es traten also immer häufiger Erzählungen auf, in denen die weibliche Hauptfigur – einst frei, ungehemmt, mit eigenen Gedanken und Wünschen – aus irgendwelchen Gründen erlöst oder gerettet werden musste, um eine höhere Ebene erreichen zu können. Und selbstverständlich konnte diese Ruhmestat nur ein Mann vollbringen.

Um diesem Narrativ Gestalt zu verleihen, wurden die Meerjungfrauen aus den Untiefen hervorgezogen. Ihnen wurde eine Erlösungsbedürftigkeit angedichtet, untermauert mit diversen religiösen Spielarten, um dem Bild eine quasi göttliche Legitimierung zu verleihen. Demnach hatten sie keine Seele, waren dadurch also verdammt. Um diesen Umstand auszuräumen, gab es nur einen Weg: die Liebe eines Mannes. Diese wurde allerdings meist mit der Ehe gleichgesetzt, bei der es sich zu jener Zeit aber eher um einen wirtschaftlichen Vertrag zwischen zwei Herren (Vater und Bräutigam) handelte und die Frau das zu verschachernde Gut war. Somit hatte hier nie wirklich jemand ihr Wohl im Auge. Es wurde nur eine weitere Begründung für die gängigen Zustände gesucht. 

Denken wir diesen Gedanken einmal ein Stückchen weiter, könnten wir sogar so weit gehen und sagen, dass Frauen vor der Hochzeitsnacht keine Menschen waren, sondern vermeintlich nur durch die Zusammenkunft mit dem Ehemann an Wert gewannen. Die ohnehin schon stets der Weiblichkeit entgegen gebrachte Skepsis und Verachtung gipfelt hier also in zunächst einer völligen Entmenschlichung, die durch einen sexuellen Akt (die Hochzeitsnacht) erst “behoben” wird. Ein erneutes hierarchisches Gefälle auf Kosten der Frau.

Genau diese Entwicklung ist in Friedrich de la Motte Fouqués “Undine” zu beobachten. Zu Beginn ist sie ein ungestümes Wesen, wunderschön, mit lauter Stimme. Sie ist neugierig, sie lacht und ist manchmal auch ein wenig egoistisch. Eine von der Gesellschaft losgelöste, junge Frau. Kein Wunder, dass sie die Aufmerksamkeit des Ritter Huldbrands auf sich zieht. Natürlich gerät dieser durch ihre Schuld zunächst einmal in eine gefährliche Situation. Dennoch würde er sie gern zur Frau nehmen.

Gesagt, getan. Und als wäre ein Dämon in der Hochzeitsnacht in sie gefahren, verliert Undine in dieser all ihre vorab so reizvollen Eigenschaften. Sie wird sanft, geduldig, demütig – und still. Sie versucht sogar, ihren Mann vor ihrer Familie aus Wassergeistern zu schützen. Doch letztendlich kommt es zum Zerwürfnis, die Wasserfrau muss zurück zu ihren Verwandten und soll, als der Ritter erneut heiraten will, diesen auf Geheiß ihres Vaters töten. Selbst jetzt versucht sie, ihn zu retten. Doch sie kann es nicht verhindern und gibt ihm in der Nacht vor seiner Hochzeit einen tödlichen Kuss. Aus Trauer darüber wird sie zu einer Quelle auf seinem Grab.

Undine ist eine tragische Figur, die betrogen und gezwungen wird. Denn im Laufe der Geschichte kommt heraus, dass es eben ihr Vater war, der sie dazu getrieben hat, überhaupt erst eine Ehe einzugehen, um eine unsterbliche Seele zu erlangen. Sie ist somit – ganz im gesellschaftlich bekannten Sinne – ein Spielball zweier Männer und wird am Ende dennoch als Unheilsbringerin stilisiert. Sie verliert alles, was sie ausmacht, alles, was sie liebt. Sie gibt sich selbst völlig auf, um zwei Männern zu gefallen. Die Frau wird leidend, ja märtyrerhaft dargestellt. Es erinnert an christliche Motive, in denen der fast schon dankbar erduldete Schmerz der Schlüssel zum Seelenheil sei. Die Gewalt und den Zwang im Leben zu ertragen, soll somit also der Weiblichkeit erstrebenswert gemacht werden. Und mit solchen Versprechungen zementiert sich das ewige Machtgefälle weiter fest.

Eine Schippe drauf legte einige Zeit später Hans Christian Andersen. Auch er verfasste ein Kunstmärchen, das uns allen wohl spätestens seit Disneys “Arielle” bestens bekannt ist – oder etwa doch nicht? Tatsächlich hat der Zeichentrickfilm kaum etwas mit dem dänischen Original zu tun.

In “Die kleine Meerjungfrau” strebt die Heldin immerhin aus eigenem Willen danach, eine unsterbliche Seele zu erringen, zusammen mit der Liebe eines jungen Prinzen. Diesen hatte sie vor dem Ertrinken gerettet, obwohl sie das nicht durfte. Ein weiteres Anzeichen einer gewissen Selbstständigkeit. Doch die wird sie nicht lange behalten dürfen.

Um sich ihre beiden Wünsche zu erfüllen, nimmt sie die gefährliche Reise zur Meerhexe auf sich. Diese braut ihr einen Trank, der ihr unter großen Schmerzen zwei Beine wachsen lässt, auf denen sie zwar nach wie vor einen fast schwebenden Gang hat, jedoch jeder Schritt ist, als trete sie in Glas. Der Preis dafür: Sie wird für immer stumm und kann nie wieder zu ihrer Familie zurück. Wenn der Prinz sich nicht in sie verliebt, wird sie zudem zu Meerschaum werden.

Sie trifft auf den besagten Königssohn, dem sie auch gefällt. Allerdings nicht wie eine Frau und Partnerin, sondern wie ein kleines Kind. Als solches erfährt sie mit einer Selbstverständlichkeit diverse Demütigungen, welche sie geduldig hinnimmt. So schläft sie beispielsweise auf einem Kissen vor seiner Tür statt in einem Bett. 

Als der Mann sich schließlich entscheidet, eine andere zu heiraten, kommen die Schwestern der Meerjungfrau ihr zur Hilfe. Sie überreichen ihr einen magischen Dolch. Wenn sie den Prinzen mit diesem ersticht, wächst ihr Fischschwanz wieder und sie darf zurück nach Hause. Doch sie kann es nicht, wirft das Messer ins Meer und springt hinterher. Statt zu Meerschaum wird sie durch diese selbstlose Tat allerdings zu einer Tochter des Windes und kann, wenn sie weiter Gutes bewirkt, doch noch irgendwann eine unsterbliche Seele erlangen.

Klingt tragisch-schön? In der Tat. Allerdings zeichnet der Erzähler auch hier wieder ein Frauenbild, welches hochgradig toxisch ist. Um dem Mann zu gefallen, darf sie nicht sprechen, muss Schmerzen und Demütigung erdulden und kann nur durch ihren Körper seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Und trotz all des Leides wählt sie am Ende den Freitod, die totale Selbstaufgabe, um ihn zu schützen. Aber selbst dadurch erhält sie keine wirkliche Belohnung, sondern muss sich weiterhin beweisen, um ihr Ziel zu erreichen. Das Machtverhältnis bleibt also sogar nach ihrem Tod bestehen. 

Andersens Meerjungfrau spiegelt die damalige kleinbürgerliche Geschlechtermoral somit sehr deutlich wider. Die Frau wird einerseits als aufopferndes Wesen, andererseits als unschuldig-naiv gezeichnet. Die kleine Meerjungfrau ist zwar liebreizend und versucht zu gefallen. Sie nimmt auch alles Leid als Lebensinhalt für das höhere Ziel in Kauf. Aber wenn der Mann es nicht will, erreicht sie dieses nie. Die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Geschlechtern werden hier beeindruckend erkenntlich.

Man reiche mir ein Handtuch: das Fazit 

Während Frauen in den tradierten Erzählungen, Sagen, Mythen und Märchen immer entweder gruselig und mächtig oder aber liebreizend und hilflos waren, zeigen die Kunstmärchen uns eine andere Art der Weiblichkeit. Sie ist anfangs facettenreicher, doch es wird auch eindeutig kommuniziert, dass das unerwünscht ist. Die angedachte Rolle der Frau ist klar abgesteckt. Erst, wenn sie dem Wunsch des Mannes entspricht, kann sie Glück erfahren. Und selbst dann nur so lange, wie es ihm gefällt. Ihm wird jegliche Dominanz zugesprochen und diese mit einer scheinbaren Allgemeingültigkeit, weil es ja auch im echten Leben so ist, legitimiert. 

Niemand hinterfragt diese Darstellung. Keinem fällt daran etwas auf. Es wird als gegeben betrachtet. Der Deckmantel der Romanze darüber ausgebreitet. Doch der kann kaum den wahren Kern der Sache verbergen. Wir müssen uns nur trauen, hinzuschauen. Uns der Erkenntnis stellen, dass unsere Märchen in diesem Punkt Wunden reißen – seit Generationen. Und wir müssen uns darin einig werden, diese endlich zu schließen. Indem wir das Bewusstsein dafür schüren und die richtigen Fragen stellen. Indem wir das Wissen annehmen und daraus lernen. Und indem wir damit wunderschöne neue Märchen entstehen lassen, die die Welt so zeigen, wie sie hoffentlich eines Tages auch wirklich ist.

Die Gastautorin

Palandurwen macht im echten Leben für andere etwas mit Wörtern. Dafür muss sie nicht einmal ihr malerisch im Elbtal, direkt an einem Weinberg gelegenes Zuhause verlassen. So kann sie sich rund um die Uhr von ihrer Katze herumkommandieren lassen, ob sie arbeitet oder in ihrem Atelier malt und scrapbookt. Märchen haben sie schon seit frühester Kindheit fasziniert und inspiriert. Doch spätestens durch ihr Germanistik-Studium scheut sie sich nicht mehr, diese auch kritisch zu hinterfragen, immer mit dem Ziel, irgendwann ein eigenes verfassen zu können.

Instagram: @palandurwen
Twitch: palandurwen

Anne/PoiSonPaiNter

Warum wir aus unserem Märchentümpel auftauchen müssen! – Teil 1

Heute hinterfragt Palandurwen in ihrem Märchensommer Gastbeitrag ein Element von u.a. einem der bekanntesten Kunstmärchen von Hans-Christian Andersen, doch bevor sie damit richtig im zweiten Teil einsteigt, zunächst ein paar Grundlagen.

Das Märchensommer Banner zeigt eine Scherenschnitt-Fee, die Glitzer auf den verschnörkelten Schriftzug "Märchensommer" über einem aufgeschlagenen Buch streut. Alles vor einer grünen Wiese neben einem Baum und Sonnenstrahlen im Hintergrund.

Warum wir aus unserem Märchentümpel auftauchen müssen!

Was sind Gründe dafür, dass wir heutzutage Märchen lesen? Die meisten antworten darauf wohl: “Schöne Kindheitserinnerungen wachrufen.” Und zu diesen Personen zähle ich mich selbst genauso. Allerdings ist da noch eine andere Seite in mir, die mit erwachsenen Augen auf diese Texte, Zeugen ihrer Zeit, schaut und zähneknirschend feststellt, dass nicht jedes Stückchen davon heute so sorglos oder zumindest kommentarlos konsumiert werden kann wie früher.

Dazu gehört auf jeden Fall die in Märchen ständig dargestellte, traditionelle Geschlechterrollen-Verteilung. Gemäß Bruno Bettelheims 1977 erschienenen Klassikers “Kinder brauchen Märchen” soll diese zwar keinerlei negative Auswirkungen auf die Kinder haben. Allerdings verfolgt die moderne Pädagogik inzwischen immer stärker geschlechtsneutrale Ansätze, denn sie hat in diversen Studien festgestellt, dass die mediale Darstellung von Frauen und Männern Kinder definitiv schon von Beginn an beeinflusst und in Klischees treibt. Entsprechend gibt es immer mehr moderne Märchen, die neutrale Darstellungen ihrer Figuren wählen. 

Vielleicht grübeln jetzt einige und finden, dass das doch gar nicht so schlimm war. Aber ich muss hier einmal den Finger in die Wunde legen, um deutlich zu machen: Doch, leider war es das. Und dessen müssen wir uns bewusst werden, um daraus zu lernen und es in Zukunft besser zu machen. Denn Märchen zeigen sehr oft stereotype und gefestigte patriarchale Strukturen, die wir alle so verinnerlicht haben, dass sie uns gar nicht mehr auffallen. Kein Wunder, denn die aufschreibenden Personen waren in den meisten Fällen Männer. Und sie gestalteten die Geschichten so, wie sie es für richtig hielten. 

In diesen Erzählungen waren Frauen den Männern stets entweder untergeordnet oder für sie gefährlich. Sie wurden als Bedrohung gezeichnet oder klein gehalten, um eine (scheinbar der Sache inhärente) Überlegenheit darzustellen. Man(n) wählte für Frauen Bilder, die diese Gefahr symbolisierten. Man(n) dichtete ihnen dämonische Kräfte an (etwa bei Hexen) oder eine allumfassende Hilflosigkeit. Frauen wurden nur positiv bewertet, wenn sie mit der Wunschvorstellung der Dichter übereinstimmten. Ein beeindruckendes Beispiel dafür sind die beiden miteinander eng verwandten Kunstmärchen “Undine” von Friedrich de la Motte Fouqué sowie deren Nachfolgerin “Die Kleine Meerjungfrau” von Hans Christian Andersen.

Hinein ins Kühle Nass: Ursprung der Meerjungfrauen

Dies lässt sich aber bereits viel früher beobachten: So faszinierten Elemente uns Menschen schon immer. Wir stellten sie uns als belebt vor, als mächtig. Kein Wunder, waren wir ihnen doch ausgeliefert. Wir ersannen sogar Gottheiten, die mit ihnen zusammenhingen – so war etwa die griechische Aphrodite bzw. später im römischen Reich die Venus eine gewisse Art des Wassergeistes. Geboren aus dem Meerschaum galt sie als die Schutzherrin der Liebe, Schönheit und Sinnlichkeit. Sie konnte mit diesen Attributen aber auch gefährlich werden, etwa wenn jemand sie reizte. 

Dieser zweischneidige Gedanke speiste viele weitere Geschichten um Wassergeister. Sie wurden oft als verlockende Wesen beschrieben. Sie konnten zwar Leben spenden, aber auch Menschen ins Verderben treiben. Und in den meisten Fällen wurden sie (von den tendenziell männlichen Erzählern) weiblich dargestellt. 

Ein gängiges Beispiel sind die Sirenen. Sie waren ursprünglich zwar Mischwesen aus Menschen und Vögeln, wurden im Mittelalter aber zu halben Fischen umgedeutet. In ihnen vereinte sich die Schönheit mit der Gefahr, denn wenn die hübsch anzusehenden Halb-Frauen auftauchten und zu singen begannen, erlagen ihnen reihenweise Seefahrer. Kaum dass die Männer aber in Reichweite der vermeintlichen Jungfern kamen, rissen diese sie blitzschnell in die Tiefen des Meeres, wo sie jämmerlich starben. 

Aus heutiger Sicht sollten hier doch die Alarmglocken ringen. Denn das Narrativ der schönen, aber todbringenden Frau wird auch heute immer noch allzu gern verwendet, ist aber schlichtweg eine völlige Verzerrung der Tatsachen. Denn beispielsweise haben ca. 90 % der gewaltsamen Todesfälle in Partnerschaften Frauen zum Opfer – die Täter dabei Männer. Möglich sind solche Femizide durch nach wie vor herrschende Machtgefälle und hierarchische Unterlegenheit der weiblichen Beteiligten. Und diese Quote wird früher nicht wesentlich anders gewesen sein. 

Im Laufe der Zeit wandelten sich die Geschichten der Wassergeister allerdings. Immer häufiger konstruierten sich auch Begebenheiten, in denen die Frau zwar das schreckliche Wesen war, aber durch einen Mann auch errettet werden konnte. Ein sehr prominentes Beispiel hierfür ist die Melusinen-Sage, welche vielfach verarbeitet wurde.

Grob zusammengefasst verläuft die Erzählung immer nach einem ähnlichen Muster: Ein Ritter trifft eine schöne Frau. Er will sie heiraten, sie stellt davor aber eine Bedingung: Wenn er sie niemals (oder nie an einem bestimmten Tage) nackt sehen würde, käme großes Glück über ihn. Bricht er sein Versprechen, würde er allerdings alles verlieren. Natürlich kommt es, wie es kommen muss, und der Ritter sieht sie doch nackt im Bade. Melusine verwandelt sich wahlweise in eine Schlange oder einen Drachen und ist auf und davon samt dem Glück des Mannes.

Mal wieder wird der Fokus auf den Mann gerichtet, der wegen einer Frau Unheil erfährt. Dass sie selbst von nun an als Monster umherirren muss, weil sie eigentlich verflucht war, ignorieren die meisten Erzählungen. Hätte der Ritter zu seinem Wort gestanden, wäre die junge Frau erlöst gewesen. Es lag also nie in ihrer Absicht, ihm Schlechtes zu wollen, ganz im Gegenteil. Dennoch wird auch hier ein eigentlicher Betrug sowie eine klare Übergriffigkeit an ihr zu einem knappen Entkommen seinerseits umstilisiert.

Schwimmt nicht zu weit raus, wir sehen uns morgen mit der Fortsetzung!

Die Gastautorin

Palandurwen macht im echten Leben für andere etwas mit Wörtern. Dafür muss sie nicht einmal ihr malerisch im Elbtal, direkt an einem Weinberg gelegenes Zuhause verlassen. So kann sie sich rund um die Uhr von ihrer Katze herumkommandieren lassen, ob sie arbeitet oder in ihrem Atelier malt und scrapbookt. Märchen haben sie schon seit frühester Kindheit fasziniert und inspiriert. Doch spätestens durch ihr Germanistik-Studium scheut sie sich nicht mehr, diese auch kritisch zu hinterfragen, immer mit dem Ziel, irgendwann ein eigenes verfassen zu können.

Instagram: @palandurwen
Twitch: palandurwen

Anne/PoiSonPaiNter

Hans Christian Andersen – Zwischen Armut, Ruhm und Phobien

Na, habt ihr schon den Weg durch die Märchenrallye gefunden?

Heute starten wir mit dem ersten Gastbeitrag dieses Märchensommers. Bisher haben wir uns ja recht häufig mit den Brüder Grimm beschäftigt. Mit diesem Gastbeitrag von Carola Käpernick von der Textgemeinschaft widmen wir uns dem wohl berühmtesten Autoren von Kunstmärchen: Hans Christian Andersen.

Das Märchensommer Banner zeigt eine Scherenschnitt-Fee, die Glitzer auf den verschnörkelten Schriftzug "Märchensommer" über einem aufgeschlagenen Buch streut. Alles vor einer grünen Wiese neben einem Baum und Sonnenstrahlen im Hintergrund.

Hans Christian Andersen – Zwischen Armut, Ruhm und Phobien

In dem Fall des Dichters Hans Christian Andersen trifft das Sprichwort „Eigenlob stinkt“ wohl nicht so gut zu. Sicherlich war er ein begnadeter Schriftsteller, doch er beschüttete sich nicht mit Eigenlob – auch, wenn er es aufgrund der Bekanntheit und der Beliebtheit seiner Werke durchaus verdient hätte. Die breite Öffentlichkeit kennt ihn als Verfasser verschiedener Kunstmärchen, doch er schrieb auch in anderen Genren, was zu seinem eigenen Verdruss aber nur wenige Menschen wahrnahmen. Auch heute ist es vielen unbekannt.

Aus Hans Christian Andersens insgesamt Märchen sind vor allem diese bekannt:

  • Das hässliche Entlein,
  • Die Prinzessin auf der Erbse,
  • Däumelinchen,
  • Die kleine Meerjungfrau
  • Des Kaisers neuen Kleider
  • Die Schneekönigin
  • Das Mädchen mit den Schwefelhölzern

Aber er schrieb auch sechs Romane, sieben Reisebücher, 46 Theaterstücke und 1000 Gedichte. Er wollte auf keinen Fall das Bild des „harmlosen Idyllikers“ verkörpern, sondern von den Menschen ernstgenommen werden. Erst acht Jahre, nachdem seine ersten Märchen erschienen sind, fand er sich damit ab, als Dichter für Kinder berühmt geworden zu sein.

Doch, wer war Hans Christian Andersen überhaupt? Was wissen wir über den Schriftsteller, der so viele schöne Kunstmärchen geschrieben hat und somit eine echte Konkurrenz für die Gebrüder Grimm darstellt?

Hans Christian Andersen – eine kleine Biographie

Hans Christian Andersen erblickte am 2. April 1805 in Odense, Dänemark als das Kind eines Schuhmachers und einer Wäscherin das Licht der Welt. Weder seine Mutter noch sein Vater verdienten viel Geld, weshalb er in Armut groß wurde und die Eltern so wenig Geld zur Verfügung hatten, dass es ihnen schwerfiel ihrem Sohn einen Besuch in der Schule zu ermöglichen.

Das soll nun keine Steilvorlage für Kinder sein, die Andersen als Beispiel nutzen, um ihre Aussage zu unterstreichen, dass man auch ohne Schulbesuch berühmt und reich werden kann. Zwar mag das auf ihn zutreffen, doch das Leben in Armut war für ihn kein Zuckerschlecken.

Hintergrundwissen: In dem Märchen „Das hässliche Entlein“ reflektiert Hans Christian Andersen seine eigenen Gefühle sich selbst und seines Erscheinungsbildes gegenüber. Als Junge war er aufgrund seiner Optik und seiner recht hohen Stimme oft Opfer von Mobbing.

Mit nur 14 Jahren verlor Hans Christian Andersen seinen Vater, was nicht nur emotional einen großen Einschnitt in seinem Leben darstellte. Er zog in die dänische Hauptstadt Kopenhagen und arbeitete dort als Schauspieler in einem Theater. In diesem Zusammenhang führte er auch eigene verfasste Texte auf, die die Menschen ansprachen, sodass die Menschen schnell das große Talent erkannten, das in ihm steckte.

Der Direktor des königlichen Theaters nahm Andersen auf und ließ ihn sogar bei sich wohnen. Dank seiner Hilfe besuchte er nach der Lateinschule später auch die Universität und schrieb weiterhin eigene Texte. Seine Werke gibt es heute in mehr als 120 Sprachen. Doch auch Andersen selbst kam viel in den Kontakt mit anderen Ländern, da er ab dem Jahr 1831 leidenschaftlich gerne reiste und sich so oft, wie es ihm möglich war, in andere Länder begab. In diesem Zusammenhang verbrachte er auch einige Zeit in Deutschland.

Hintergrundwissen: Dass viele der Märchen, die Hans Christian Andersen verfasste mit einer augenscheinlich aussichtslosen und schlechten Situation der Protagonisten starten, kommt nicht von ungefähr. Der Schriftsteller verarbeitete in den Geschichten seine persönlichen Traumata, wie die Kindheit in Armut und den Tod des Vaters. 

Hans Christian Andersen heiratete nie und hat auch keine Kinder bekommen, wobei diese beiden Aspekte für ihn keine zwingenden Bestandteile eines Happy Ends darstellten – zumindest nicht für sein eigenes Leben. Denn in seiner späteren Autobiographie schrieb er Folgendes: „Mein Leben ist ein hübsches Märchen, so reich und glücklich.“

In dem Alter von 70 Jahren starb Andersen am 4. August 1875 an Leberkrebs und hinterließ der Welt viele schöne Werke, die Kinder und Erwachsene in vielen Ländern auch heute noch in ihren Bann ziehen, aber auch Kritiker finden, die in Märchen nur von wahrwerdenden Träumen lesen möchten.

Hintergrundwissen: Obwohl er selbst sein Leben als hübsches Märchen, reich und glücklich beschreibt, litt Hans Christian Andersen sein ganzes Leben lang unter vielen Phobien. So hatte er unter anderem Angst vor Hunden und aß kein Schweinefleisch, weil er Angst vor dem Parasiten „Trichinae“ hatte, der in Schweinefleisch vorkommen kann. Eine seiner größten Phobien war es allerdings fälschlicherweise für Tod erklärt und lebendig begraben zu werden. Aus diesem Grund schrieb er jeden Abend, bevor er zu Bett ging einen Zettel auf dem er festhielt: „Ich scheine nur tot zu sein“, um sicher zu gehen, nicht lebendig begraben zu werden.

Wer einmal in die eigenen Kindheitserinnerungen zurückreist wird sich bestimmt an eines oder auch mehrere Märchen des beliebten Schriftstellers zurückerinnern. Nicht nur Hans Christian Andersens Leben selbst war also ein hübsches Märchen, sondern auch seine Märchen selbst verzaubern vielen Kindern das Leben und bescheren ihnen ganz besondere Momente. Nicht zuletzt aus diesem Grund gilt Andersen in seinem Heimatland Dänemark als „national treasure“ – also als „Schatz der Nation“.

Zu Ehren von Hans Christian Andersen:

  • feiern wir immer am 2. April (dem Geburtstag des beliebten Schriftstellers) den internationalen Kinderbuchtag.
  • ließ die dänische Regierung damals eine Statue für ihn bauen, die sich im Königsgarten in Kopenhagen wiederfindet. Andersen konnte diese noch zu Gesicht bekommen, starb jedoch vier Monate später, nachdem sie zu Ehren seines 70. Geburtstags aufgestellt wurde.
  • kann man sich heute sein Geburtshaus in Odense ansehen.
  • gibt es an der Langelinje Seebrücke eine Statue von der kleinen Meerjungfrau, die in der Originalfassung im übrigen weitaus grausamer ist und kein Happy End findet, wie wir das von der heute bekannten und beliebten Filmadaption gewöhnt sind.

Die Gastautorin

Geboren im Februar 1969, lebt Carola Käpernick in Südbaden. Sie betreibt die Textgemeinschaft als Herzensprojekt und sieht sich als Netzwerkerin für Autor:innen. Zudem schreibt sie eigene Bücher in verschiedenen Genren von der Romanze bis zum Krimi. Märchen liebt sie und hat mit einer ihrer Anthologieausschreibungen auch Märchen für Erwachsene von verschiedenen Autor:innen gesammelt und herausgegeben (Frühlingserwachen im Märchenwald, dass diesen Sommer auch wieder einer der Preise ist).

Homepage: Carola Käpernick
Twitter: @Textgemeinscha1