Der zweite Advent, die zweite Gastgeschichte. Heute von Helene Persak.
Gefangen
Sehnsüchtig sieht er aus dem Fenster. Hinauf zum Mond.
Wie gerne wäre er jetzt draußen, um in dessen Licht zu Wandeln. In seinem kalten Schein zu baden, nur das kühle Gras unter den Füßen und den Wind auf der Haut. Doch kann er nicht.
Der Blick verlässt den Himmel, gleitet in die Tiefe, sucht den Garten, den er so sehnlich vermisst. Der Boden ist nah. Nur ein Stockwerk entfernt liegt die ersehnte Freiheit und ist doch unerreichbar fern. Mit leisen Seufzen lehnt Julien den Kopf an die Eisenstangen. Sie sind es, die ihn von der Außenwelt trennen. Sie sind es, die das Fenster versperren, welches ihm nur einen Ausschnitt von dem zeigt, was er ersehnt. Doch die Familie wird ihn nie wieder aus diesen Räumen lassen, das ist ihm bewusst.
Vor Kurzem erst hat er gegessen und sitzt seit dem, wie jeden Abend, hier. Wartend in seinen Erinnerungen versunken.
Erinnerungen an Tage im Garten unter einem strahlenden Himmel. Tage voller Fröhlichkeit, Geborgenheit und Freiheit. Doch liegen sie schon lange zurück. So lange, dass selbst die Erinnerung an sie verblasst. Nun sind ihm alleine diese zwei Zimmer und die Männer, die ihm Essen bringen, geblieben. Männer, die nie ein Wort zu ihm sagen und seine ignorieren. Schweigen ist sein stiller Begleiter.
Bis sie erschien.
Wehmütig gleitet sein Blick weiter, schweift über die Büsche und den Wald.
Seine einzige Abwechslung waren Bücher und Schriften. Von denen er einige selbst verfasst und andere ihm gegeben wurden. Sie sollen ihm in seiner Einsamkeit Gesellschaft leisten.
Aber nichts kann die Gesellschaft eines anderen ersetzen. Sei ihm auch, durch die Gitter verstellt und die Höhe getrennt, keine Nähe möglich, so könnte er zumindest mit jemanden Sprechen. Womit sie nun mehr ist, als er seit Ewigem gehofft hat. Sie, Sarina, wurde das Licht im Dunkel seiner Nächte.
Seit einiger Zeit besucht sie ihn schon und sie ist es, auf die er wartet.
Ein Huschen erregt seine Aufmerksamkeit. Sie muss es sein. Aufregung durchdringt die Lethargie, lässt das träge Herz ungestüm schlagen. Kein Laut ist zu hören, außer jener, welcher nur Sie sein kann. Die Familie ist in ihren Betten, denn die Nacht ist spät und der Tag noch fern. Doch er verharrt ängstlich. Lauscht auf weitere Geräusche, aber das Haus bleibt still.
Als er sich sicher ist, greift Julien zu der Lampe und blinkt zwei Mal. Mit stockendem Atem wartet er, ob es nicht ein Fehler war. Wartet, bis sie aus den Büschen tritt. Erst als er ihren Schatten erkennt, ist es ihm möglich, wieder zu atmen. Sie ist es.
Fröhlich, ganz ihrem Wesen gleich, winkt sie zu ihm hinauf. Doch, sie blickt sich um und verschwindet wieder in die Büsche.
Sein Herz stockt und will im nächsten Moment zerspringen.
Entsetzt springt er auf, umschlingt das Gitter und streckt seinen Arm in die Nacht. Noch einmal lauscht er und kann nichts Falsches hören. „Nein, bitte geh nicht,“ will er zu ihr schreien, doch ist die Gefahr zu groß gehört zu werden. So haucht er es nur in die Stille. „Wir sind alleine. Verlass mich nicht,“ fleht er sie an. Einsamkeit umklammert sein Herz, zwingt es zur Regungslosigkeit, und lässt Kälte ihn umschlingen. Enttäuschung liegt auf ihm, macht die Arme, Schultern schwer und drückt ihn nieder. Wie konnte sie ihn nur verlassen? Weiß sie nicht, wie viel sie ihm bedeutet? Wie viel ihm die gemeinsame Zeit bedeutet, so kurz sie auch ist? Trauer lässt ihn seinen Blick senken, als eine Bewegung erneut Hoffnung in ihm weckt.
Sie kommt zurück. Sie hat ihn doch nicht verlassen. Schon im nächsten Augenblick wird seine Aufmerksamkeit jedoch von ihrer Gestalt abgelenkt. Wird eingenommen von etwas, das Sie bei sich hat. Schwer atmend und mit großem Rumoren zerrt sie es hinter sich her. Verwirrt beobachtet er. Unfähig zu erkennen, zu erahnen, was hier vor sich geht, lauscht er auf verräterische Geräusche. Etwas, was ihm verrät, dass sie kommen.
Erst als sie in das Mondlicht tritt, offenbart ihm dieses, was geschieht. Eine Leiter ist es, die sie über den Rasen, Weg und in Richtung des Hauses zerrt. Angespannt lauscht Julien. Ob jemand aufgewacht ist? Doch Sarina ist nun zu laut, zu ungestüm, um etwas anderes wahrnehmen zu können. Verängstigt, der Lärm würde die Männer alarmieren, will er zur Tür hetzen. Doch wollen seine Finger ihm nicht gehorchen. Mit ganzer Kraft klammern sie sich an die Stäbe, sehnen herbei, was er sich nicht zu denken wagt.
So bleibt ihm nur still zu sitzen. Zu beobachten wie sie die Leiter hebt, sie ungeschickt gegen die Mauer fallen lässt und zu hoffen, dass die Bewohner tief schlafen.Klar hallt der Ton – von Metall auf Stein – über den Garten hinweg; wird nicht vom Wald verschlungen, sondern zurückgeworfen. Voller Angst verharren Beide, lauschen auf Geräusche, die verraten, was geschehen wird. Doch, als der Klang verhallt ist und nur noch in seinen Ohren existiert, bleibt alles andere still.
Die Lichter vor seinem Fenster bleiben dunkel und keine Tür wird geschlagen.
Julien lauscht noch ängstlich in die Nacht, als Sarina bereits ihren Fuß erhebt, um die Leiter zu erklimmen. Beschwingt, so angefüllt von Tatenddrang, ganz ihrem Wesen gleich, steigt sie empor. Bis ihr Kopf auf seiner Höhe ist. Eine gute Handbreit nur trennt nun ihre Lippen. Eine Handbreit und die Gitterstäbe. Das erste Mal seit langem ist er jemandem so nah. Sein Herz stockt und scheint dann Purzelbäume zu schlagen.
Fasziniert, betrachten sie einander für einen Augenblick.
„Hallo, du,“ haucht sie ihm entgegen. Das Lächeln, das ihr Gesicht erstrahlen lässt, berührt Juliens Inneres. So lange schon ist es her, dass er die Sonne sehen konnte. Doch jetzt ist er sich sicher, sie wieder zu haben.
Nur zögernd schafft er es, ihren Gruß zu erwidern. „Hallo, Sarina.“ Vorsichtig, um den Traum nicht zu zerstören, streckt er die rechte Hand aus. Kurz bevor er die Absperrung durchbricht, stockt er. Sein Blick sucht den ihren und taucht ein in Freundlichkeit und Wärme. Bestärkt davon, wagt er es, durch den Spalt nach ihr zu greifen. Als er ihre Wange berührt, er seit ewiger Zeit wieder die Wärme eines Körpers spürt, beginnt seine Hand zu kribbeln. Sanft schmiegt Sarina sich in seine Hand, lässt ihren Kopf sinken und ihn scheinbar von ihm tragen.
Ein sanfter Hauch nur, welcher seinen Lippen entrinnt, zeugt von seine nun mehr nachlassende Anspannung.
Doch muss er sich nicht daran erinnern, dass sie in Gefahr sind. Viel zu oft wurde er aus seiner Lethargie gerissen. Aufgeschreckt von den Türen, welche sie rücksichtslos aufstießen, um ihn zu kontrollieren. Auch sie weiß es. Mehr als einmal musste sie sich schnell in den Büschen verstecken.
Heute wird ihnen keine Warnung helfen.
Dieser Anspannung ungeachtet, als hätte die Berührung etwas in Gang gesetzt, breitet sich warmes Kribbeln über seinen Arm aus. Wandert langsam, so als wolle es den Weg genießen – oder Dämme einreisen – in Richtung Kopf.
„Du bist leichtsinnig,“ tadelt er sie voller Sehnsucht. „Es ist gefährlich. Wenn sie kommen, wo willst du Schutz finden?“ Seufzend, ohne jedoch seinen Blick loszulassen, lässt sie ihren Kopf gegen die Stange sinken.
„Ich wollte dich endlich näher sehen. So oft bin ich her gekommen und nie konnte ich dich wirklich sehen. Konnte dich nie berühren. Heute wollte ich bei dir sein,“ gesteht sie ihm. „Sieh, ich hab dir etwas mitgebracht.“ Als sie ihren Kopf erhebt, sich von ihm weg beugt, fühlt es sich an, als wäre ihm etwas wunderbares genommen worden. Eilig nimmt sie ihren Rucksack ab, schiebt ihn zwischen sich und die Leiter, um darin zu kramen. „Hier.“ Mit strahlendem Lächeln, als schenke sie ihm den schönsten seiner Wünsche, reicht sie ihm ein seltsames Ding.
„Was ist das?“, fragt er verwirrt und beobachtet, wie ihr Lächeln schwankt.
„Das ist eine Säge,“ erwidert sie sichtlich irritiert. Trauer huscht über ihr Gesicht, während sie weiter spricht: „Du kannst damit die Stäbe lösen.“
Als er sie nach wie vor verwirrt ansieht, erklärt sie eifrig: „Es wird Zeit dauern, aber wenn du zwei lösen kannst, dann bist du frei.“
Zögernd greift Julien nach der Säge, dreht sie in seinen Händen und weiß doch nichts damit anzufangen.
Aufgeregt nimmt sie ihm diese wieder ab, hält sie an eines der Gitterstäbe.
„Hier, siehst du“, vorsichtig schabt sie mit der Säge an dem Metall und trennt einen Span heraus. „Wenn du jede Nacht etwas sägst, bemerken sie es erst, wenn du schon lange nicht mehr hier bist. Verstehst du das?“
Neugierig betastet Julien die Wunde an seinem Gefängnis – denkt über ihre Worte nach und die Möglichkeiten, die sich ihm dadurch eröffnen.
„Aber, sie werden nach mir suchen,“ ist er sich sicher. „Sie werden mich nicht entkommen lassen.“ Traurig lässt er ab und blickt wieder in ihr Gesicht.
„Julien,“ seufzt sie, ebenso traurig, „Sie werden nichts machen können“, ist sie überzeugt. „Keiner weiß, dass es dich gibt. Sie haben es immer bestritten.“, erinnert sie ihn. Weckt die Erinnerung an all die Male, bei denen sie die Polizei gerufen hatte. All die Male, an denen sie doch ohne ihn wieder gegangen sind. „Ich gebe dir Geld, damit wirst du mit dem nächsten Zug wegfahren. Sie werden dich nicht finden, vertrau mir.“ Wie gerne würde er das – aber die letzten Zweifel, die letzten Ängste kann sie nicht verjagen.
Sacht ergreift sie seine Hand, gleitet sanft darüber, während ihr Blick den seinen fesselt.
„In einem halben Jahr bin ich fertig mit der Schule und folge dir. Gemeinsam,“ ermutigt sie ihn, „werden wir das schaffen.“
„Ja,“ verspricht er entschlossen, „ich versuche es“. Das Lächeln, welches er mit diesem erntet, verleiht dem Kribbeln an Stärke. Treibt es voran, bestärkt es, seinen Körper auszufüllen.
„Das ist gut,“ versichert sie ihm.“ Du wirst sehen, es wird funktionieren“. Sicherer als seine vorhin, gleitet ihre Hand durch die Stäbe und streift seine Wange. Sehnsüchtig lässt er sich dagegen sinken. Will in ihre Wärme sinken, ganz von ihr umschlossen werden. Aber die Hand wandert weiter, streicht durch seine Haare, bis sie am Hinterkopf angekommen ist.
Der Duft, der ihn umspielt, lässt ihn noch tiefer sinken. Lässt ihn noch mehr in die Entspannung, in das Wohlgefühl gleiten. Widerstandslos wird er von ihr nach vorne gezogen.
Zu ihrem strahlenden Lächeln, zu ihrem zarten Duft.
Als seine Stirn die Gitter berührt, legen sich ihre Lippen sanft auf seine, lassen seinen Atem stocken.
Nur für einen Augenblick.
Das Kribbeln, dass schon fast sein Herz, seinen Verstand erreicht hat, explodiert in seinem Körper und lässt ihn handeln, bevor er denken kann.
Erst sein eigener Schrei, bringt ihn wieder zu Verstand. Doch es ist zu spät. Entsetzt und in seinem Zimmer gefangen, kann er nur mit ansehen, wie Sarina fällt. Einen roten Faden hinter sich herziehend stürzt sie zu Boden. Ihre Augen, vor kurzem so froh und voller Kraft, blicken nun glanzlos und fragend zu ihm hinauf. Lichter gehen an. Lärm dröhnt wie Donner durch das Haus.
Julien aber hat nur Augen für Sarina, die wie in Zeitlupe noch immer fällt und alles kommt zurück.
Alte, beinahe schon vergessene Erinnerungen stürmen auf ihn ein. Erinnerungen an seine Mutter, die für ihn gesorgt, sich um ihn gekümmert hat. Abgegrenzt vom Rest der Welt. Behütet und versteckt.
Mit ihr war er frei, unter der strahlenden Sonne. Doch dann konnte selbst sie ihn nicht mehr kontrollieren und sein Vater schloss ihn hier ein.
Nicht einmal zu ihrer Beerdigung ließen sie ihn. Auch nicht zu Vaters, in einem anderen Leben, kurz danach und doch lange her, durfte er gehen.
Nun ist es wieder geschehen.
Hier, in seiner Gefangenschaft. Er hat den einzigen Menschen getötet, der zu ihm stand, der ihm Nähe und Zuneigung entgegenbrachte.
Die Türen werden aufgerissen, Männer stürmen in sein Zimmer. Grob greifen sie nach ihm und zerren ihn mit sich. Zerren ihn weg von Sarina, deren Augen immer noch anklagend zu ihm hinauf sehen. Widerstandslos – in seiner Trauer, seinem Schock gefangen – lässt sich Julien in den kleinen Raum stürzen, der seinen Schlaf vor der Sonne bewacht. Als die Tür zu dem fensterlosen Raum geschlossen wird, weiß er, dass sie erst wieder geöffnet wird, wenn sie ihm sein Essen bringen. Konserven voll erwärmten Blutes, das nie die Fülle des Frischen, welches nun in seinen Adern pocht, ersetzten kann. Er weiß, dass die Männer, die männlichen Nachfahren seiner Geschwister, ihn erst wieder rauslassen werden, wenn sie es für richtig halten. So, wie sie es schon seit Generationen machen.
Doch es ist ihm egal. Das Einzige, was ihn beschäftigt ist seine Tat. Den entsetzten Blick in die Dunkelheit gerichtet, gleitet er die Wand hinunter. Mit jedem Schlag seines, von Sarinas Blut genährtem Herzen, driftet er mehr in die Verzweiflung. Lässt sich von ihr umarmen und trösten.
Das einzige, was ihm nun noch bleibt, sind seine Bücher und Schriften.
Die Autorin
Fantasyautorin Helene Persak wurde im Jahr 1977 in einem abgeschiedenen Teil Oberbayerns geboren. Vor einigen Jahren zog es sie in die Nähe von Frankfurt am Main, wo sie heute mit ihrem Mann lebt. Schon seit ihrer frühen Kindheit ist sie der Fantasy verfallen und nie ohne Buch, sei es Print oder E-Book, unterwegs. Angeregt durch ihren Mann begann sie die Geschichten, die ihr seit ihrer Kindheit im Kopf herum schwirren, aufzuschreiben. Seit einiger Zeit ist sie Mitglied des Verbandes junger Autoren und Autorinnen (BjVA) e.V. und immer auf der Suche nach neuen Anregungen für ihr Schreiben.
Facebook: Helene Persak
Hinter den Kulissen
Erst Skelette, jetzt ein Vampir … mal sehen, was euch nächsten Sonntag erwartet. 😀
Heute gab es außerdem Gastbeiträge zum #Eishörnchen von mir bei der Bücherhexe auf Facebook:
Anne