Der erste Gastbeitrag diesen Märchensommer stammt von Eva-Maria Obermann, die uns schon im ersten Märchensommer von der Mär fürs Volk erzählte. Diesmal widmet sie sich dem Thema …
Böse Stiefmütter in Märchen
Die böse Stiefmutter. Wenn uns Märchen eines gelehrt haben, dann das Stiefmütter böse sind. Abgrundtief fiese Gestalten, gemeine Hexen und Menschenfresserinnen. Sie wollen ihre Ziehkinder ermorden lassen, beuten sie aus, misshandeln sie oder setzen sie im Wald aus. Heute, 200 Jahre nach Erscheinen der grimmschen Märchensammlung, ist es fast unmöglich, „Stiefmutter“ zu denken, ohne das Bild, dass die Märchen geschaffen haben, wachzurufen.
Wer sich ein bisschen mit dem Motiv beschäftigt, findet schnell heraus, dass die Stiefmütter in den ersten Fassungen der grimmschen Sammlung – vor der Überarbeitung 1819 – Mütter waren. Es war die Mutter, die Schneewittchens Schönheit so ärgerte, dass sie ihre Tochter im Wald ermorden lassen wollte und auch Aschenputtels Mutter war es, die ihre Tochter im Dreck hat schlafen lassen. Diese erste Fassung war brutal, voller Sex und Blut und Grausamkeit. Die Kritik daran war so groß, dass die Märchen grundlegend überarbeitet wurden. Extrem entschärft wurden sie zu den Geschichten, die wir heute kennen. Und die Mütter zu Stiefmüttern.
Problematisch ist, dass dabei tatsächlich psychologische Grundpfeiler verschwimmen. Die Märchen, in denen die Mutter zur fürchterlichen Antagonistin wird, sind auch jene, in denen sie vorab als diejenige gezeigt wird, die einen intensiven Kinderwunsch hegt. Schneewittchens Mutter sitzt am Fenster und träumt vom Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut, so schwarz wie Ebenholz. Und auch Aschenputtels Mutter hegt zu Beginn einen Kinderwunsch. Es sind die gleichen Mütter, die sich so sehr nach einem Kind sehnen, die zunächst dem liebvollen Ideal gleichen und dann so entfremdet wurden, dass sie zu Stiefmüttern umgedichtet wurden, um sich die Abkehr von jenem Ideal zu erklären.
Gleichzeitig sind jene Märchen ausschließlich Adoleszenzgeschichten. Die junge Protagonistin ist mit irgendeiner Eigenschaft ausgestattet, die der gealterten Mutter fehlt. Schneewittchens Schönheit, Aschenputtels Klugheit und Fleiß. Der Kontrast zwischen Alt und Jung wird zum Kern der Konflikte. Das, was die Mütter ausgemacht hat, als sie selbst noch keine entsexualisierten und auf die Seite geschobenen Mütter waren, erkennen sie in ihren Töchtern. Eifersucht und Sehnsucht, aber auch das Wissen um die Vergänglichkeit dieser Attribute sind den Konflikten als elementare Bestandteile angedichtet. Dahinter aber steht noch ein weiterer Aspekt.
Mütter sind niemals nur perfekt gut oder entsetzlich böse. Sie bewegen sich, aus Sicht des kleinen Kindes, zwischen den Extremen hin und her. Die Mutter die kuschelt, spielt und füttert, küsst und vorliest, wird im kindlichen Gedankengang der Mutter gegenübergestellt, die fordert, Regeln aufstellt und mit Ablehnung begegnet, wenn das Kind dagegen rebelliert. Das kann Schimpfen oder Bestrafung sein, aber auch die simple Forderung, das eigene Zimmer aufzuräumen oder Abends die Zähne zu putzen. Es entstehen zwei Mütter-Imagi, eine absolut liebevolle und eine in jedem Bezug böse. Diese zwiegespaltene Vorstellung der Mutter war in den sich verändernden Müttern der ursprünglichen grimmschen Sammlung zu erkennen.
Die Loslösung des Motivs hin zur konkreten Trennung zwischen leiblicher, guter Mutter und böser Stiefmutter aber erzeugte nicht nur im Märchen zwei Figuren, sondern beeinflusste auch unser Mutterbild (und tut es bis heute). Noch immer werden Mütter in der idealisierten Vorstellung zur liebevollen Bewahrerin, die sämtliche eigenen Bedürfnisse hintenanstellt und nur noch für das Kind lebt. Wer dagegen verstößt wird zur Rabenmutter deklariert. Stiefmüttern dagegen unterstellt dieses Bild, per se einen schwierigeren Zugang zum Kind, da sie angeblich mit ihm um die Gunst des Vaters buhlen müssten. Kurz, Mutterschaft heute ist von der grimmschen Edition der (Stief-)Mütter in hohem Maße betroffen und muss sich immer wieder dem überhöhten Muttermythos stellen.
Die Autorin
Eva-Maria Obermann wuchs in einer pfälzischen Kleinstadt auf und liebt gute Geschichten seit jeher. Sie hat in Mannheim Literaturwissenschaften studiert, vier Kinder bekommen und promoviert über die Mutterfigur. 2017 erschien der erste Teil ihrer Urban Fantasyreihe „Zeitlose“ und der humoristische Liebesroman „Ellas Schmetterlinge“. Die fantastische Trilogie wird 2019 beendet. Für die Märchenspinnerei hat sie Rapunzel in ein Steampunk-Setting gebracht und arbeitet bereits an einer zweiten Märchenadaption.
Autorenblog: Schreibtrieb
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Twitter: Variemaa
Anne/Poisonpainter
Guten Morgen 🙂 das war mir bisher nicht bekannt :O
Sehr gut 😀
Wenn du magst, gibt es vom ersten Märchensommer noch ein paar Beiträge, die sich näher mit den ursprünglichen Versionen der Märchen befassen. Nicht nur Mutter->Stiefmutter, sondern auch die Blutigkeit, die heruntergeschraubt wurde.
–(Allerleirauh & Rotkäppchen)
– (Schneewittchen & Dornröschen)
– (Die kleine Meerjungfrau & andere Märchen)
Ich frage mich ja auch ein wenig, ob es damit zusammenhängt, dass bis heute viele Fantasyromane mit Waisenkindern/Stieffamilien beginnen (beispielsweise Harry Potter) – mir fällt zumindest kein Buch ein, erst recht nicht für Jugendliche, in dem die leiblichen Eltern etwas tun, was zum Beginn der Heldenreise führt.
In der russischen Variante zu „Schneewittchen“ („die tote Prinzessin“) wird ja interessanterweise von A. S. Puschkin auch tatsächlich explizit geschrieben, dass die Mutter kurz nach der Geburt des Kindes verstirbt (nachdem sie sich Gott anempfohlen hat), ehe dann die Stiefmutter ihren Platz einnehmen darf. Dort fehlt allerdings die Symbolik „weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz“ komplett und auch der Kinderwunsch der Mutter wird ausgespart. Eher wird angedeutet, dass der Zar die ganze Zeit unterwegs ist um Kriege zu führen und seine schwangere Frau somit alleine lässt.
Ich bin mir noch nicht sicher, wohin genau mich dieser Gedanke führt, aber er ist … interessant ^^
An der Sprache haben sie sich ja auch maßgeblich beteiligt, wie Jan letztes Jahr erklärt hat. Da würde es mich nicht wundern, wenn das hier ähnliche Züge angenommen hat.
Gerade bei Schneewittchen ergibt es sogar mehr Sinn, wenn die böse Königin eben nicht die Stiefmutter ist; trauriger Weise. Aber im Grunde zeigt es dann auch auf, was für ein König das sein muss, dass er sowohl seine Frau als auch seine Tochter auf Schönheit reduziert.
In dem Kontext der Sexualisierung läuft es mir aber kalt den Rücken runter, denn in Töchterchens Märchenversion beginnt die Eifersucht der Königin, als Schneewittchen sieben ist – also genauso alt, wie Töchterchen jetzt.
Ich finde in dem Zusammenhang auch interessant, dass es selten um den Stiefvater geht. Obwohl es den ja auch im Märchen gibt, siehe Aschenputtels Stiefschwestern, die ja einen neuen Vater bekommen (wenn auch vorübergehend).