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Katherina Ushachov: Der tote Prinz

Auch heute gibt es im Märchensommer wieder eine Rezension. Diesmal zum sechszehnten Band der Märchenspinnerei: Der tote Prinz von Katherina Ushachov, einer Steampunk-Adaption von „Die tote Prinzessin und die sieben Recken„, der russischen Version von „Schneewittchen und die sieben Zwerge“.

Worum geht’s?

4 of 5 stars

In einer zerstörten Welt arbeitete sich Aino von einer Müllsammlerin zur Warlady hoch. Nun ist es an ihr, mit Hilfe ihrer Tochter Elessa, Frieden zu schaffen zwischen ihrem und dem Reich der Warlady Alixena. Spontan beschließt Elessa dies durch einer Ehe mit Alixenas Sohn Dario zu besiegeln.

Doch niemand ahnt, das Lord Felix, Alixenas zweiter Mann, ganz andere Pläne hat, um sicherzustellen, dass er der schönste Mann im Reich ist und die Macht bekommt, die ihm zusteht.

Wir Elessa Felix vor seinem Stiefvater beschützen können?

Das Leseerlebnis

Die Geschichte beginnt in der Vergangenheit und macht einen Zeitsprung in die Gegenwart. Alles was geschieht wird aus erstaunlich vielen und unterschiedlichen Perspektiven erzählt.  Ein oder zwei Mal fragte ich mich, warum nun noch eine weitere hinzu kam, aber ohne diese hätten gewisse Erzählstränge nicht weitergeführt werden können, ohne alles nochmal von anderen Charakteren durchkauen zu lassen. Hier stellt sich die Frage, ob man das mit von Beginn an anderen Perspektiven hätte umgehen können, aber ich fand die bunte Mischung interessant, da jede auch ihre eigene Erzählstimme mitbrachte.

Zum Ende hin, ging es mir ein bisschen zu schnell und wurde zu märchenhaft. Wo vorher ausreichend Zeit für den wunderbaren Weltenbau verwendet wurde, wurde die Problemlösung innerhalb weniger Seiten abgehandelt. Das fand ich schade, hat das Ende aber nicht schlechter gemacht.

Die Charaktere

Wo fang ich bei den Charakteren am besten an? Bei der Tatsache, dass alle Rollen umgekehrt sind? Oder das es nur einen nicht-PoC Charakter gibt? Oder, dass die Machtverhältnisse komplett umgekrempelt sind? Oder einfach damit, dass ich den Weltenbau dieser Geschichte unglaublich genial finde?

Es ist eine Welt voller (Plastik)Müll und Schadstoffen unter einer brennenden Sonne. Von der Beschreibung her, würde ich die Handlungsorte nach Afrika stecken, entsprechend ist, wie oben bereits erwähnt, die Mehrheit der Charaktere PoC. Aino bildet hier eine Ausnahme und es wird deutlich gemacht, dass sie definitiv nicht den geltenden Schönheitsidealen entspricht. Denn die sind: Umso dunkler die Haut, umso hübscher der Mensch. Dies ist auch der Hauptantrieb von Felix. Anstatt eines Zauberspiegels hat er eine KI, die anhand von Statistiken ausrechnet, wie hübsch er im Vergleich zu anderen Menschen, die sie gescannt hat, ist. Passenderweise heißt sie Narzissa. 😀

Aino und Elessa sind wunderbare Frauenfiguren, die ihren eigenen Kopf haben und genau wissen, was sie wollen. Sie schrecken vor nichts zurück, um ihre Ziele zu erreichen und lassen sich nicht so einfach unterkriegen. Sie sind kein perfektes Mutter-Tochter Paar, ergänzen sie sich dennoch auf ihre eigene großartige Weise.
Aus Alixenas Perspektive hätte ich mir etwas mehr Inhalt gewünscht, da wir das wahre Ausmaß ihrer Zerbrochenheit leider nur durch andere (teilweise angedeutet) erfahren, eventuell wäre es hier dann aber notwendig gewesen schärfere Warnungen einzufügen für häusliche Gewalt/Missbrauch. Ihr Wandel war auf alle Fälle interessant zu verfolgen.

Die männlichen Figuren waren dahingehend eher flach ausgelegt, was aufgrund der umgekehrten Verhältnisse schon ironisch ist. Unterwürfige, eindimensionale Figuren. Genau das, was sonst immer die Frauen im Märchen sind. B)
Felix, der manipulative Schönling ein echtes Aas, dem man den Sieg nicht gönnt. Dario, der Prinz, der erst durch Elessa und Amazonen, bei denen er auf seiner Flucht unterkommt, lernt, wie man kocht, putzt und generell arbeitet. Und Avital, der loyale Diener, der alles tut was sein Herr ihm aufträgt und sich nicht traut gegen ihn zu agieren.

Es gibt noch zwei andere Charaktere, die Elessa auf ihrer Suche nach Felix helfen, deren Sinn ich nur ansatzweise verstanden habe. Außer, dass sie, wie in russischen Märchen üblich, die gängigen Wegweiser sind. Sie wirkten leider trotzdem etwas … random.

Zum Ende hin gab es noch einen Verliebtheits-Subplot, der für mich aus heiterem Himmel kam … wenn, dann hätte ich eher Avital zugetraut Gefühle zu gestehen, aber nicht jener Person … das war etwas zu subtil und erinnert mich daran, dass ich auch schon in Zarin Saltan die Romantik bekrittelte. 😀

Generelle Meinung

Auf Twitter und bei den Charakteren hab ich ja schon darüber geschwärmt, aber der Weltenbau ist einfach nur genial. Die Art wie Katherina den Plastikmüll, der nach der „großen Dunkelheit“ übrig geblieben ist eingebaut hat, ist einfach nur faszinierend. Kleidung, Schmuck, Baumaterial, das sollte man mal in echt umsetzen. 😀
Hinzu kommt die Umkehrung der Machtverhältnisse und die sehr spezielle Insekten-Küche. Einfach wunderbar. Ich hätte mich noch wesentlich länger in der Welt aufhalten können, um sie zu erkunden.

Leider hat das zum Ende hin nicht so ganz geklappt, denn der Schluss kam dann doch recht plötzlich und unerwartet. Da hätte ich mir ein bisschen mehr gewünscht.

Alles in allem aber eine großartige „Schneewittchen“ Fassung, die mit so ziemlich allem bricht, was man traditionell kennt – und das nicht nur, weil es auf der russischen Version basiert.

Wie auch schon bei Eva-Maria Obermanns „Tropfen der Ewigkeit„, ist dies eine gute Einstiegsmöglichkeit in das Genre Steam Punk, wobei es bei Katherina eher „Plastik-Punk“ ist. Faszinierend ist es alle mal.

Dinge, die ich hinzufügen möchte

Wie bereits bei der Buchvorstellung gesagt, ist „Die tote Prinzessin“ eines der Märchen, die ihr letztes Jahr im Märchensommer Bilderrätsel erraten musstet. Vielleicht habt ihr ja Lust, das Originalmärchen von Puschkin zu lesen um das Bild nun besser zu verstehen? Denn auch schon da, wurde es sehr oft mit Schneewittchen verwechselt.

Schaut gerne auch bei Katherinas Gastbeitrag vorbei. Darin erzählt sie noch ein bisschen mehr zum Unterschied zwischen der bekanntesten Schneewittchen Variante und der russischen Version.

Im Verlauf des Märchensommers könnt ihr übrigens ein E-Book von „Der tote Prinz“, aber auch von „Zarin Saltan“ gewinnen. Ihr müsst nur auf die entsprechende Punktzahl kommen. 🙂

Bleibt gespannt!

Anne/PoiSonPaiNter

© Für das Cover gehören den rechtmäßigen Besitzern.

Schneewittchen oder doch nicht?

Auch diesen Märchensommer widmet sich Katherina Ushachov einem Vergleich. Dieses Mal:


Russische & Amerikanische Märchenfilme: Schneewittchen

Kurz vorneweg:

Dieser Artikel behandelt ausschließlich die gezeichnete und animierte Fassung von „Schneewittchen“ bzw. „die tote Prinzessin“. Über die zahlreichen Realverfilmungen wird ein anderes Mal zu schreiben sein und nicht zwingend von mir. Entsprechend lässt der Artikel einige Aspekte bewusst aus. Einige Quellen sind auf Russisch, hier ist der Google Translator zu bemühen.

Wer an animierte Umsetzungen der großen Märchenklassiker denkt, wird in erster Linie an Disney denken – dies ist so verbreitet, dass bisweilen sogar Trickfilme Disney zugeschrieben werden, mit denen das Studio nichts zu tun hat, wie beispielsweise „The Swan princess[1] aus dem Hause Columbia TriStar/New Line Cinema. Jüngere Leser*innen kennen zusätzlich noch die Barbie-Filme, von denen zumindest die ersten sich sehr oft mit Märchenstoffen beschäftigen[2] und diese mit Hilfe von Barbie-Figuren darstellen (von denen anschließend einige käuflich zu erwerben waren und teils noch sind).

Sowjetische Kinder – und später auch junge Leute wie ich, die in der Postsowjetzeit in russischsprachigen Ländern aufgewachsen sind – lernten jedoch zuerst andere Trickfilme kennen. Die von „Sojusmultfilm“. Anders als Disney, eine Privatfirma und geleitet von einem einzelnen, handelte es sich dabei um ein staatliches Animationsstudio.

Beide bezogen und beziehen ihre Stoffe aus Märchen. Doch die Ergebnisse sind bisweilen sehr unterschiedlich. Ich möchte untersuchen, warum dies der Fall sein könnte und ein wenig auf die verschiedenen Ansätze der beiden Filmstudios eingehen.

Allgemeiner Vergleich:

Ein wichtiger Unterschied lag bereits im System begründet: Disney ist ein privates, 1923 zum ersten Mal gegründetes Filmstudio, das mehrere Anläufe gebraucht hat[3]. Walt Disney hat Anfang der 30er nicht zuletzt darum die Idee von einem abendfüllenden Zeichentrickfilm entwickelt, weil die Einnahmen für seine Kurzfilme zunehmend stagnierten und er sie nicht – anders als andere Studios – mit anderen Produktionen gegenfinanzieren konnte[4].

Diesen Druck hatte Sojusmultfilm – 1936 gegründet – nicht. Alle dortigen Filmschaffenden waren im Grunde genommen staatliche Angestellte, deren Honorare nicht vom kommerziellen Erfolg der Trickfilme abhängig waren. Somit konnten sich die Künstler*innen in gewissem Sinne austoben und schufen insgesamt über 1500 Trickfilme[5], die meisten davon sehr kurz.

Hierbei dienten interessanterweise die Walt-Disney-Studios anfangs als Vorbild für die Sowjetunion, nicht zuletzt, weil dort zum damaligen Zeitpunkt einige Erfindungen gemacht wurden, die das Erstellen von Trickfilmen maßgeblich veränderten (wie beispielsweise die erste Nutzung des Storyboards im heutigen Sinne[6] oder die Einführung der Arbeitsteilung bei der Erstellung von Trickfilmen[7]) – später wollte man sich bewusst von ihnen abgrenzen. Dem ersten Zeichentrickfilm, damals noch in Schwarz-Weiß und nur acht Minuten lang, sieht man den Einfluss in Hinblick auf Bewegung, Animation und Figurenstil tatsächlich noch recht gut an: YouTube-Video.

Interessanterweise haben beide Filmstudios während des zweiten Weltkriegs auch Propagandafilme und Instruktionen für die Armee gemalt – Sojusmultfilm auf staatliche Verordnung hin, Walt Disney hingegen, um mit der eigenen Firma über die Runden zu kommen. Durch einen Streik und daraus folgende Gehaltserhöhungen, drei aufeinander folgende teure Flops und die Tatsache, dass „Bambi“ auf einem von den Nazis verbotenen Buch basierte und somit nicht in besetzten Gebieten gezeigt werden konnte, brachte das Studio an den Rand des Ruins. Auch wenn er „Victory through air power“ tatsächlich aus Überzeugung gezeichnet und gedreht hat.[8] Sojusmultfilm hat allerdings nur wenige Monate Kriegstrickfilme gezeichnet, diese Aufgabe betrachtete man später als „nicht so wichtig“ und ließ das Studio wieder Trickfilme schaffen.[9]
Die große Blütezeit der Trickfilme mit „All Age“-Zielgruppe begann vor allem nach 1946, wobei in den Jahren 46 bis 53 dezidiert der Wunsch nach einer eigenen Ästhetik in Abgrenzung zu Disney gewünscht wurde – so fällt beispielsweise auf, dass Sojusmultfilm den Schritt zu abendfüllenden Zeichentrickfilmen eigentlich erst in den 90ern vollzogen hat – alle in diesem Artikel vorgestellten Filme aus ihrem Studio sind deutlich kürzer als die Disney-Pendants, darauf werde ich in den einzelnen Abschnitten genauer eingehen. Selbst Filme, die ich als vergleichsweise lang in Erinnerung habe (wie „Die zwölf Monate“ haben eine Laufzeit unter einer Stunde[10], mit wenigen Ausnahmen, wie dem Märchen vom buckligen Pferdchen, das 1975 um einige neue Szenen ergänzt und neu synchronisiert wurde[11] . Interessanterweise ist es genau dieser Trickfilm, der in der Fassung aus den 40ern von Walt Disney seinen Zeichner*innen gezeigt wurde – während die ersten Trickfilme von Sojusmultfilm noch nach amerikanischen Lehrbüchern aus seiner Zeichenschule entstanden.
Teilweise fanden aber auch parallele Entwicklungen statt – so stiegen beide Filmstudios annähernd zeitgleich auf die Rotoskopietechnik[12] um, nicht zuletzt, um Zeit und Geld einzusparen. Kurioserweise in beiden Fällen bei Tierfilmen: „101 Dalmatiner“ bei Disney, „Kashtanka[13] bei Sojusmultfilm.

Andere Entwicklungen verliefen in einigem zeitlichen Abstand – so hat Disney recht früh und recht oft das Aussehen der Figuren den Synchronsprecher*innen angepasst (auch wenn das nicht immer aufgegangen ist, ein plakatives Beispiel dafür sind die Rollen der Geier im „Dschungelbuch[14]). Dies wurde bei Sojusmultfilm erst Mitte der 50er Jahre üblich.

Beide Filmstudios bestehen im Übrigen bis heute – auch wenn Sojusmultfilm vom Zusammenbruch der Sowjetunion arg gebeutelt wurde.

„Schneewittchen“ (1936) vs. „Die tote Prinzessin und die sieben Recken“ (1951)

Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass hier das Ausgangsmaterial nicht zu 100% identisch ist. Die Disneyverfilmung basiert auf dem Märchen der Brüder Grimm, während die Variante von Sojusmultfilm – wie auch am Namen ersichtlich – vom Kunstmärchen von A. S. Puschkin abgeleitet wird.
Während also das amerikanische Kinostudio ein „deutsches“ Märchen adaptiert, greifen die Filmemacher*innen aus der Sowjetunion auf Stoff zurück, der unter anderem die Funktion einer gesamtsowjetischen Sinnstiftung hat. Die Amtssprache in allen Republiken ist Russisch, Puschkins Lyrik und seine Dramen sind zumindest in Russland bis heute Schulstoff und gelten als hochliterarisch, während Volksmärchen nach wie vor den Ruf von „Kinderkram“ haben.

Etwas, das Sojusmultfilm auch – soweit möglich – für andere Märchenstoffe fortgeführt hat. Die Märchen der Brüder Grimm waren in der Sowjetunion durchaus bekannt, das beweisen mehrere meiner aus der Zeit stammenden Märchenbücher. Ebenso beispielsweise die Märchen von Charles Perrault, jedoch wurden meist die russischen Pendants adaptiert, sofern vorhanden. „Die scharlachrote Blume[15] statt „Die Schöne und das Biest“ ist ein weiteres Beispiel dafür.

Dabei halten sich beide Filmstudios mal mehr, mal weniger akribisch an die literarische Vorlage, wobei Sojusmultfilm in der Regel und so auch bei diesem Beispiel näher am Original bleibt.

Interessanterweise sorgen jedoch ausgerechnet Disneys Kürzungen an der Grimm’schen Geschichte dafür, dass die Handlungsverläufe mehr Parallelen haben, als die ursprünglichen Märchen. So sieht die russische Variante von vornherein nur einen Mordanschlag auf die Prinzessin vor, der durch den vergifteten Apfel erfolgt. Bei den Brüdern Grimm versucht die böse Königin, Schneewittchen vorher noch mit einem Kamm und einem Gürtel zu töten. Beide Versuche kommen in Disneys Verfilmung nicht vor.

Dadurch, dass Disney außerdem die Anfangssequenz weglässt, bei der Schneewittchens Äußeres vorhergesagt wird („weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz“) ähneln sich hier teilweise die Anfänge, diese Metaphorik fehlt in der russischen Variante weitestgehend. Zwar wird auch hier die Zarentochter als „weiß von Angesichts mit schwarzen Brauen“[16] beschrieben, dies ist jedoch nicht so stark mit Symbolismen aufgeladen, wie der Grimm’sche Anfang. Eine weitere Gemeinsamkeit entsteht dadurch, dass in der Anfangssequenz von „Snow White and the Seven Dwarfs“ der Prinz zumindest einmal mit Schneewittchen singt und sie dem Wunschbrunnen vorsingt, dass sie gerne von einem Prinzen gefunden und gerettet werden würde. Anders als im Originalmärchen findet er sie also nicht zufällig, sie haben eine Begegnung, bei der Schneewittchen jedoch in Panik vor dem Prinzen flieht, offensichtlich aufgrund ihrer Lumpen beschämt. Sie teilen sich sogar einen zarten Taubenkuss.

Ein wichtiger Unterschied besteht außerdem in der Art, wie der Film erzählt wird. Beide beginnen zwar mit einer reich illustrierten Märchenseite, doch während Disney frei erzählt, hält sich die russische Variante strikt an die Verse des Originals. Mehr noch, sie werden zumindest zu Beginn im Hintergrund von einer weiblich klingenden Person rezitiert, während der Beginn des Märchens in Standbildern dargestellt wird. In diese wird gezoomt, um den Eindruck von Bewegung zu erzeugen, die ersten Sequenzen sind nicht animiert und erinnern in ihrer Ästhetik an ein Ölgemälde.

Erst ab der Wiederverheiratung des Zaren ist der Trickfilm weitestgehend durchgängig animiert. Das führt im Übrigen zu einem interessanten Effekt – da die negativen Eigenschaften der neuen Zarin in der Versform aufgezählt werden, müssen sie nicht von den Zuschauer*innen durch konkrete Taten der Figur erschlossen werden:

weiß, von stolzem Gliederbau,
eine schöne, kluge Frau;
doch voll Hochmut nebenbei,
auch von Eifersucht nicht frei,
eigenwillig, eigensinnig,
aber wirklich schön und minnig.[17]

Die längere Spielzeit der Disneyvariante kommt nicht zuletzt durch die zahlreichen Lieder. Das erste singt Schneewittchen in der dritten Filmminute, während sie die Treppe schrubbt. Andere dadurch, dass die Protagonistin bei Disney durch Kleinigkeiten zusätzlich charakterisiert wird – in der achten Minute spricht Schneewittchen recht lange mit einem aus dem Nest gefallenen Vögelchen.

Weitere Sequenzen, die zur Länge beitragen, bestehen beispielsweise in Schneewittchens recht gruselig gestalteter Flucht durch den Wald, an deren Ende sie weinend auf der Erde liegt. Die gruseligen Gestalten entpuppen sich als niedliche (und fortan hilfreiche) Tiere des Waldes (10./11. Filmminute). Darunter auch das kleine, blaue Vögelchen, das sie vorher gerettet hat. Es sind auch die Tiere, die ihr den Weg zum Haus der Zwerge zeigen.

Szenen, die in der Märchenfassung fehlen, werden hinzugefügt – wie die Beratung der Zwerge, als sie ihr hell erleuchtetes Haus sehen und die folgende Anschleichsequenz, die sich über mehr als sieben Filmminuten hinzieht. Auch die Szene, in der die Zwerge Schneewittchen mit Musik und Tanz unterhalten, kommt weder im originalen Märchen noch in der sowjetischen Variante vor und beinhaltet unter anderem einige Slapstickeinlagen und jodelnde Zwerge. Die sowjetische Variante verzichtet weitestgehend auf jede Form von Füllszenen, einzig die Episode, in der sich die Magd und die Zarentochter im Wald immer wieder anrufen, könnte als solche gesehen werden.

Interessant sind hier auch die Kleider der Figuren. Während das Kleid, das Schneewittchen die meiste Zeit trägt und das der Königin streng genommen gar nicht während der gleichen Epoche getragen werden würden – das Kleid der Königin erinnert an mittelalterliche Hofkleidung, das von Schneewittchen eher an eine Art Dirndl, ohne dass Epoche oder Ort näher dargestellt werden würden – sind die Kleider der Figuren bei Sojusmultfilm eindeutig russisch. Alle Frauen tragen einen Kokoschnik auf dem Kopf, auch die Magd der bösen Zarin.

In beiden Trickfilmfassungen sieht man die „gute“ Frau im Übrigen auffällig oft bei häuslichen Tätigkeiten:
Schneewittchen

  • Schrubbt die Treppen
  • Räumt erst einmal ausgiebig im Haus der Zwerge auf
  • Backt einen Kuchen
  • Achtet darauf, ob die Zwerge ihre Hände vor dem Essen waschen
  • Gibt den Zwergen mütterliche Abschieds- und Gute-Nacht-Küsse auf die Stirn

Die Zarentochter

  • Wird in ihrer ersten Sequenz beim Sticken am Rahmen gezeigt
  • Wird fortgelockt, um Pilze und Beeren zu sammeln (im Vergleich dazu soll Schneewittchen mit dem Jäger lediglich Blümchen pflücken)
  • Bringt den unordentlichen Haushalt der Recken erst einmal in Ordnung und deckt den Tisch mit traditionell russischem Geschirr
  • Spinnt Wolle, als die verkleidete Zarin auf dem Hof der Recken ankommt

Die Antagonistin sieht man dahingehend in weiten Teilen des Trickfilms ausschließlich entweder dabei, den Spiegel zu befragen (und sich vor dem Spiegel zu putzen) oder dabei, ihre Gefolgsleute (jeweils den Jäger oder die Magd) auszuschicken. Ihr letzter Gang besteht dann darin, sich selbst auf den Weg zu ihren Opfern zu machen.

Auch Sojusmultfilm kürzt Details um der Dramatik willen aus der Handlung – so wird nicht erwähnt, dass das Paar aus Zarentochter und Zarewitsch Jelissej an dem Tag heiraten soll, an dem die Zarin ihre Stieftochter aussetzen lässt. Diese Verse werden nicht mehr verlesen, ebenso fehlt im Trickfilm eine Auflistung ihrer Mitgift (laut der Übersetzung von „Projekt Gutenberg“ hundertvierzig Prunkpaläste und sieben große Städte[18].
Während die Szene, in der Schneewittchen den Jäger verängstigt anschaut und er sie schließlich gehen lässt, in der Disney-Variante groß ausgeführt wird, fehlt eine ähnliche Szene im sowjetischen Pendant vollkommen. Sie kommt zwar im Originalmärchen vor, im Film wird jedoch lediglich gezeigt, wie die Magd sich zurückzieht und allein zur Zarin zurückkehrt. Die Konfrontation der beiden Frauen wird ausgelassen.[19]

Interessanterweise kürzt die sowjetische Fassung außerdem heraus, dass die Recken nicht nur jagen, sondern zumindest im Originalmärchen auch in den Krieg ziehen. Sie ändert außerdem ab, dass die Zarentochter im Original vor Erschöpfung unter der Ikone einschläft. Sie versteckt sich vor den Recken und tritt hervor, als sie nach ihr fragen.

Andere Änderungen lassen sich auf den Einfluss von Disneys „Schneewittchen“ zurückführen, darauf gehe ich etwas später ein.

Für das Filmen von „Snow White and the seven Dwarfs” entwickelte Disney ein Filmverfahren, bei dem Teile der Landschaft auf verschiedene Glasplatten aufgetragen wurden. Dadurch schien sich der Hintergrund beim Reinzoomen oder bei Kamerafahrten zu bewegen, es entstand der Eindruck von Tiefe. Darüber hinaus konnte so beispielsweise Regen auf eine separate Platte aufgetragen und so gefilmt werden. Darüber hinaus ließ er die Zeichner*innen die Bewegungen von Tänzer*innen studieren, um für damalige Zeit revolutionär realistische Bewegungen von Menschen zu animieren[20].

Welche Filmtechniken Sojusmultfilm zur Verfügung standen, ist für mich schwer zu sagen, aber rein optisch hatte ich beim Anschauen öfter das Gefühl, dass der Hintergrund im Vergleich eher statisch blieb, oft ähnelte er einem Ölgemälde. Zumindest das Verwenden verschiedener Ebenen scheint aber nicht gänzlich unbekannt zu sein, die Sequenz im letzten Drittel, bei dem Jellisej mit der Zarentochter durch ein Blumenfeld reitet und bei der sich eine halb transparente Blumenhecke vor die Figuren schiebt, legt nahe, dass diese auf einer anderen Ebene gewesen sein muss als der Hintergrund und die drei Figuren.

Interessanterweise übernimmt Sojusmultfilm, dessen Fassung wesentlich später entstanden ist, einige Motive und Handlungselemente aus dem Disneyfilm und unterscheidet sich in diesen Punkten vom Original. So schickt im Originalmärchen die Zarin ihre Magd mit dem vergifteten Apfel aus, doch in der Filmfassung von 1951 ist es die verkleidete Stiefmutter, die zudem in einer sehr ähnlichen Kutte und mit einem ähnlichen Wanderstock zum Haus der Recken geht.

Eine Verwandlung oder der Einsatz schwarzer Magie erfolgt hier jedoch nicht.

Auch dass der Hofhund die Recken holt und versucht, sie rechtzeitig nach Hause zu führen, ehe die Zarentochter in den Apfel beißen kann, könnte von der Szene inspiriert sein, in der die Tiere des Waldes die Zwerge aus dem Bergwerk holen, damit sie verhindern, dass Schneewittchen in den Apfel beißen kann. In beiden Fällen kommen die Retter zu spät. Im Original des russischen Märchens springt der Hund lediglich um die Tote herum und demonstriert die giftige Wirkung des Apfels, indem er davon frisst und verendet. Dies tut er in der Filmversion erst, nachdem er die Recken zu ihr geführt hat. Ein weiterer möglicher Einfluss von Disney liegt in der Szene, in der Jelissej die Zarentochter findet – und mit einem Kuss erweckt. Im Original zerbricht er den Sarg und kann sie so erwecken.
Der Filmkuss ist im Falle von Schneewittchen allerdings eine Erfindung von Disney. Die ursprünglichen Märchenfassungen sehen hier verschiedene Varianten vor (je nach Ausgabe) – die ursprünglichste schildert, wie Schneewittchen von den Diener*innen des Prinzen geschlagen wird[21], die es unheimlich finden, wie der Prinz all seine Zeit mit einer Leiche verbringt, sodass der Apfel rausspringt. Kinderfreundlichere und vor allem bekanntere Varianten lassen einen Diener des Prinzen oder dessen Pferd straucheln, sodass der Apfel aus Schneewittchens Kehle fällt, noch ehe es vom Prinzen ins Schloss gebracht werden kann[22].
Film-Schneewittchen ist an dieser Stelle mit ihrem Prinzen – den sie ja am Anfang kennen gelernt hat – vereint und alle sind glücklich. Da die Königin bereits anderweitig eliminiert wurde, hat also die Disneyfassung keine Notwendigkeit, die Hochzeit (und die Rolle der Königin dort) darzustellen. Also gibt es keine glühenden Schuhe, in denen sie sich tottanzen muss.

Anders als in der Disneyfassung, wird in der sowjetischen Fassung die Zarin nicht gejagt und getötet. Sie kann erfolgreich nach Hause zurückkehren und führt sogleich die Spiegelprobe zu ihren Gunsten durch. Anders als bei Disney besteht somit die Notwendigkeit, die Filmhandlung auch nach dem Kuss fortzuführen. Entsprechend blendet der Film noch einmal zu einer Spiegelprobe ab und zeigt, wie die Zarin erfährt, dass die angeblich tote Widersacherin lebt. Sie sieht die namenlose Zarewna auf den Hof einreiten und fällt tot um. Hier setzt die Erzählstimme vom Anfang wieder ein und schildert das Ende – die Liebenden werden getraut.

Weitere Unterschiede ergeben sich schlicht aus den Unterschieden in der Fassung, die jeweils adaptiert wird und haben nichts mit dem Unterschied zwischen Disney und Sojusmultfilm zu tun. Sie würden hier an dieser Stelle somit zu weit führen.

Für den Vergleich wurden die Filmfassungen mehrfach angeschaut:
„Das Märchen von der toten Zarentochter und den sieben Recken“ zu finden auf YouTube.
„Snow White and the seven Dwarfs“ – in Deutschland über YouTube nicht zugänglich.

Screenshots sind jeweils aus diesen Videos.

Fazit

Auch wenn der Kalte Krieg spätestens seit Kriegsende unerbittlich tobte, ist es unmöglich, die größten Filmstudios der beiden rivalisierenden Staaten vollkommen getrennt von einander zu betrachten.

Nicht nur, weil sich Sojusmultfilm anfangs Disneys Arbeiten zum Vorbild nimmt und die eigenen Zeichner*innen anhand seiner Materialien unterrichtet, sondern auch, weil sich die beiden Studios später gegenseitig immer wieder beeinflussen. Und sei es, indem das eine versucht, sich zwingend vom anderen abzugrenzen.

Liebt man die Zeichentrickversionen von Märchen, kann es sehr bereichernd sein, das gleiche Märchen jeweils in verschiedenen Fassungen zu sehen und zu vergleichen. Das ist nicht nur vergnüglich, sondern auch höchst lehrreich.

[1] The Swan Princess -Wikipedia
[2] Barbie Filme – Wikipedia
[3]The Walt Disney Company (Gründung und Anfänge (1923-1927)) – Wikipedia
[4][20] It All Started with a Fairy Tale: Disney’s Snow White and the Seven Dwarfs – Tor.online
[5]Союзмультфи́льм – Wikipedia (Ru)
[6] Storyboards (Origins) – Wikipedia
[7] Советская фабрика грёз: как появился «Союзмультфильм»
[8] Animation as War Propaganda: Disney’s Victory Through Air Power
[9] Непростая история студии «Союзмультфильм», мультфильмы которой нас вырастили
[10] Die zwölf Monate (1956) – Wikipedia
[11] Конёк Горбунок (мультфильм) Редакция 1975 года 2 – Wikipedia (Ru)
[12] Rotoskopie
[13] Каштанка (мультфильм, 1952)
[14] Buzzie, Flaps, Ziggy, and Dizzy
[15] The Scarlet Flower – Wikipedia
[16] Eigene Übersetzung, „Projekt Gutenberg“ übersetzt die Stelle mit „blendend von Gesicht, schönre Jungfrau sah man nicht“ und lässt somit die expliziten Farbzuweisungen verschwinden
[17] [18] Märchen von der toten Zarentochter und den sieben Recken
[19] Projekt Gutenberg übersetzt dies so:
Bald
kam Tschernawka in den Wald
mit dem schönen Zarenkinde,
schickt sich an, daß sie es binde.
Und das Zarenkind erschrickt,
jammernd auf zur Zofe blickt,
fleht mit ausgestreckten Armen
sie um Mitleid und Erbarmen:
»Gott, was ist denn mein Verschulden,
daß ich solches soll erdulden?
Rette mich, laß mich am Leben,
reichen Lohn will ich dir geben
künftig, wenn ich Zarin werde!«
ruft sie flehender Gebärde.
Und die Zofe hört ihr Flehen,
kann, gerührt, nicht widerstehen,
denn sie liebt die schöne Maid,
spricht: »Ich tue dir kein Leid,
mög der Himmel mit dir sein!«
Ließ sie, kam nach Haus allein.

[21] Schneewittchen (Genese der Grimmschen Fassung) – Wikipedia
[22] Schneewittchen (Schneewittchens Erlösung und der Tod der Königin) – Wikipedia

Die Autorin

Katherina Ushachov zog im Alter von sechs Jahren aus dem sonnigen Odessa nach Deutschland. Zwanzig Jahre später machte sie Vorarlberg zur neuen Wahlheimat. Sie schreibt seit der Schulzeit, weil sie ohne das Schreiben nicht mehr leben kann. Wenn die freie Lektorin nicht gerade an einem ihrer Romane arbeitet, textet sie für mehrere gemeinschaftlich geführte Blogs oder erzählt auf ihrer Homepage vom Alltag als junge Autorin.

Homepage: Keller im 3. Stock
Lektorat: Phoenixlektorat
Weltenbau: Weltenschmiede
Facebook: Katherina Ushachov – Autorin
Twitter: @evanesca

Anne/Poisonpainter