Heute stellt Kaja Paulan in ihrem Märchensommer Gastbeitrag eine ganz besondere Sammlung von Märchenadaptionen vor.
Von His Dark Materials zu den Grimmschen Märchen – Eine fantastische Reise
Philip Pullman ist ein Schriftsteller, der mit seinen Werken neue Maßstäbe in der Fantasy Literatur gesetzt hat. Seine epische „His Dark Materials“ Trilogie ist weltbekannt und begeistert immer noch die Menschen überall. Mit dieser Trilogie eröffnete er seinen Leser*innen nicht nur eine faszinierende Fantasy Welt, er beeindruckte sie auch durch deren philosophische und moralische Elemente. Doch wer von euch weiß eigentlich, dass er sich auch den Grimmschen Märchen zuwandte? Ich selbst bin ziemlich spät darauf gestoßen, und doch ist es eigentlich naheliegend, denn wir alle schreiben ja nicht im luftleeren Raum, auch die berühmtesten Fantasyerzähler nicht.
Der Spiegel schreibt über Philip Pullman: „Wie alle großen Märchenerzähler bedient Philip Pullman sich ohne Scheu aus anderen Märchen. Nach der Maxime »Lies wie ein Schmetterling und schreib wie eine Biene!« hat er, wie er selbst sagt, »Ideen aus jedem Buch gestohlen, das ich gelesen habe«.“
Einige dieser Ideen stammen sicher aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, wie ich euch in meinem Beitrag zeigen möchte. Dabei beziehe ich mich vor allem auf Pullmans Kommentare und Anmerkungen aus „Grimm Tales: For Young and Old“, erschienen 2012.
In „Grimm Tales: For Young and Old“ hat Philip Pullman 50 Märchen der Brüder Grimm neu interpretiert. Dabei hat er sie nicht umgeschrieben oder verändert, er hat versucht, sie mit seiner eigenen Stimme zu erzählen. Selbst sagte er darüber: „Doch mein vorrangiges Interesse galt immer der Frage, wie die Märchen als Geschichten funktionieren. Mit diesem Buch verfolge ich einzig und allein das Ziel, die besten und interessantesten von ihnen zu erzählen und alles aus dem Weg zu räumen, was ihren freien Lauf hindert. “
Sein Ziel war es also, die Märchen für ein modernes Publikum zugänglicher zu machen, indem er den Erzählstil und die Sprache an die heutige Zeit anpasste. Er wollte die zeitlose Bedeutung und die moralischen Botschaften der Menschen bewahren, aber gleichzeitig auch seinen eigenen, künstlerischen Stil einbringen.
Märchen im Wandel der Zeit – Pullmans kreative Neuerzählungen
Wie eingehend Philip Pullman sich mit den Märchen befasst hat, zeigt sich in mehreren Interviews und Artikeln, die er diesem Thema gewidmet hat. Hier versucht er, dem Wesen der Märchen auf den Grund zu gehen. Er setzt sich mit ihren Figuren, ihrem Tempo, ihrer Poesie und der Bildsprache auseinander. Dabei stellt er fest, dass Märchen nicht einfach Texte sind, die aufgeschrieben wurden und nun unverändert so stehenbleiben wie die Werke großer Schriftsteller. Er meint, dass sich Märchen fortwährend im Wandel befinden, sich durch die Jahrhunderte hinweg ständig verändert haben und verändern werden. Der Grund ist seiner Meinung nach, dass es mündlich überlieferte Geschichten sind. Viele Details hängen von der Befindlichkeit des Erzählers, der Erzählerin, ab. Pullman also schreibt die Märchen neu mit der Leitfrage im Kopf: „Wie würde ich diese Geschichte erzählen, wenn ich sie von jemand anderem gehört hätte und sie weitergeben wollte?“
Jeder Märchenerzähler, jede Märchenerzählerin drückt den Märchen einen individuellen, unverwechselbaren Stempel auf. So auch Philip Pullman. Er sieht sich in der Tradition von Märchenerzähler*innen wie Dorothea Viechmann, Otto Runge, Dortchen Wild und all den anderen, die den Brüdern Grimm damals die Märchen erzählt haben, um sie zu bewahren.
Logik und Dramaturgie – Die Quellenforschung
Insgesamt hat Philip Pullman eine Menge Arbeit in seine Märchensammlung investiert. Er las die Kinder- und Hausmärchen in allen verschiedenen Auflagen und untersuchte ihre Veränderungen, er befasste sich mit ihren Quellen und wählte für seine Nacherzählung immer die seiner Meinung nach passendste Version aus. Er erklärt in den Anmerkungen zu „Grimm Tales: For Young and Old“, warum er gerade diese Versionen ausgewählt hat, wie er versuchte, logische Schwächen auszugleichen und aus dramaturgischen Gründen kleine Details hinzufügte. Pullman hat jedes Märchen gründlich untersucht und dabei Bezüge zu anderen Märchen hergestellt. Er untersuchte Quellen und entdeckte manchmal sogar Logikfehler, die im Verlaufe der Märchenbearbeitung durch die Brüder Grimm aufgetaucht sind. Auch hier beziehe ich mich wieder auf sein Buch „Grimm Tales: For Young and Old“. Seine Kommentare zu jedem einzelnen Märchen sind dort zwar recht knapp gehalten, aber dennoch äußerst informativ und interessant.
Denkanstöße und Veränderungen – Tradition und Moderne
Während Philip Pullman die meisten Märchen unverändert ließ und ihnen nur durch seinen Erzählton eine eigene Note gab, fügte er an anderen Stellen kleine Verbesserungen hinzu. Beispielsweise gab er im Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“ dem Reh die Möglichkeit, an Stelle der Kinderfrau den König über die böse Hexe aufzuklären. Denn es ist für ihn, und da stimme ich ihm zu, völlig unverständlich, warum dieses Reh keine andere Funktion mehr im zweiten Teil des Märchens übernimmt. Im Märchen von Rapunzel griff er eine ursprüngliche Nuance auf, indem er die Schwangerschaft der Hauptfigur wieder einführte. Pullman dachte auch über die Rolle des Vaters im Märchen von Hänsel und Gretel gründlich nach. Er versuchte, logische Schwächen auszugleichen und ergänzte aus dramaturgischen Gründen kleine Details. In einigen Fällen entwickelte Pullman sogar alternative Versionen oder Lösungen für die Märchen. Im Märchen „Allerleirau“ suchte er nach einer Möglichkeit, den Vater zu bestrafen, der sein Kind durch geplanten Missbrauch aus dem Palast trieb. Jedoch veränderte er das Märchen nicht direkt, sondern fügte seine Gedanken und Ideen in die Kommentare ein, um die Lesenden zum Nachdenken anzuregen.
So stellt er die Märchen auf den Prüfstand, gibt moralische und philosophische Denkanstöße und liefert Diskussionsstoff für heutige Betrachtungs- und Erzählweisen.
Philip Pullman – Märchenerzähler des 21. Jahrhunderts
Mit „Grimm Tales: For Young and Old“ hat Philip Pullman bewiesen, dass er nicht nur ein Meister der Fantasy-Literatur ist, sondern auch ein herausragender Interpret der Grimmschen Märchen. Pullmans gründliche Untersuchung und seine Ideen für Verbesserungen oder alternative Versionen verleihen diesen Märchen eine neue Tiefe und regen dazu an, sie heute aus einer anderen Perspektive zu betrachten.
Philip Pullman hat mit seinem Werk einen wertvollen Beitrag zur Märchentradition geleistet und den Leser*innen die Möglichkeit gegeben, die Grimm’schen Märchen in einem neuen Licht zu sehen. Seine Interpretationen laden dazu ein, über die moralischen, philosophischen und zeitlosen Botschaften der Märchen nachzudenken und sie in den heutigen Kontext zu übertragen.
Quellen
- BBC Newsnight (21.11.2014) Philip Pullman’s fairytale world (YouTube Video)
- Schroeder C.D.C. Grimm Translations: Refiguring German Fairy Tales through English Translation (1823 – 2012)
- Spiegel (30/2001) Im Reich der dunklen Materie
Die Autorin
Kaja Paulan ist eine Autorin, die bereits als Kind ihre Liebe zum Schreiben entdeckte. Sie verbrachte Stunden damit, abenteuerliche und spannende Geschichten zu erfinden und in fantastischen Buchwelten zu versinken. Sie hat bereits mehrere Veröffentlichungen vorzuweisen, darunter den Fantasyroman „Ragnamar – Einbruch der Dämmerung“.
Die Leidenschaft für das Erzählen von Geschichten begleitet sie auch in ihrer Arbeit als Grundschullehrerin. Kaja Paulan hat zwei erwachsene Kinder und wohnt mit ihrem Mann in der Nähe der Ostsee. Dort arbeitet sie unermüdlich an weiteren Geschichten und Romanen.
Homepage: Kaja Paulan
Facebook: Kaja Paulan Autorin
Instagram: @kajapaulan_fantasy oder @kajapaulan_kinderbuch
Nächste Woche erfahrt ihr noch mehr über Kaja und Ragnamar, bleibt gespannt!
Anne/PoiSonPaiNter