Logo der Aktion. Schrift "Dein Bild - Eine Geschichte". Links unten sind handgezeichnete Polaroid-Fotos, das E von Geschichte geht oben rechts in einen ebenfalls gezeichneten Bleistift über.

Der Ruf des Meeres

Foto eines Mannes mit Schwimmweste, der am Steuer eines schief liegenden Segelschiffes steht.
© Klaus Bubenheimer

Der Wind wehte ihm stark um die Nase und seine Kleidung flatterte an den Stellen, die von ihm erfasst wurden und auch das Hauptsegel erzitterte unter der Wucht der Naturgewalt. Eine steife Brise, wie es in der Seemanns-Sprache hieß, wehte und trieb sie schnell voran. Das kleine Boot schwankte mit den Wellen, die der Wind aufgewirbelt hatte und die immer wieder gegen den Kiel schlugen, aber er konnte sich keinen schöneren Ort vorstellen, als jetzt hier hinter dem Steuer zu stehen und das Schiff auf Kurs zu halten.

Geschichten aus längst vergangenen Tagen bahnten sich ihren Weg in sein Gedächtnis und je mehr er an sie dachte, umso mehr war ihm, als hätte er sein Lebtag nichts anderes gemacht, als hier zu stehen, den Wellen zu lauschen, das Steuer zu bedienen und zu segeln. Ein Lächeln hatte sich auf seinem Gesicht ausgebreitet und er war erfüllt von seinen Erinnerungen.

Er dachte an den berühmten Weltumsegler Magellan, der als ein Vorreiter seiner Art galt. Wie erhaben musste er sich gefühlt haben, als ihm die ganze Welt zu Füßen lag, während er und seine Mannschaft ihre Reise antraten oder erst als er die nach ihm benannte Magellanstraße entdeckt hatte.

Das Erforschen neuer Gewässer stellte er sich unglaublich aufregend vor. Niemand wusste, was einem hinter dem nächsten Wellenberg erwartete, ob nun eine Insel oder gar eines der berüchtigten Seemonster sich dahinter versteckte. Auch das Wetter konnte ungeahnte Formen annehmen. Es war so viel anders auf See, als auf Land. Von einem Augenblick zum nächsten konnte sich der Himmel zusammenziehen und sich in einen Wolkenbruch ergießen. Es war tückisch und niemand konnte es je bestimmt voraussagen. Doch immer wieder folgten die Männer dem Ruf der Sterne und des Meeres und kehrten zurück. Auch er war diesem Ruf erlegen, er war es der ihn jedes Mal wieder aufs Wasser zog.

Vor ihm waren schon viele andere waren dem Ruf der Freiheit des Meeres gefolgt. Nicht jeder von ihnen hatte sein Ziel erreicht und auch nicht jedem war vergönnt sein Heim wiederzusehen. Dennoch hatten seine Vorgänger die Meere erkundet, sie kartographiert und mehr über die See erfahren, als sie es sich je erträumt hatten. Sie hatten Routen an Hand der Sterne erstellt, Techniken entwickelt sich daran zu orientieren und hatten die Grundsteine für die heutige Schifffahrt gelegt. Sie müssen undenklich stolz auf ihre Errungenschaften gewesen sein.

Doch es waren nicht nur glorreiche Gedanken an die vielen Entdecker, die ihn durchströmten, auch die Lust auf Abenteuer, Ruhm und Reichtum hatte Einzug gehalten. So sehr sich die Marinen und Entdecker der verschiedensten Länder auch anstrengten und miteinander wetteiferten, die erfolgreichsten und waghalsigsten Seeleute waren noch immer die Gesetzlosen der Meere: Freibeuter und Piraten.

Es waren ihre Geschichten, die sich noch heute mit einem Leuchten in den Augen erzählt wurden.
Die Geschichten vom Freibeuter Klaus Störtebecker, der die Weiten der Ostsee mit seiner Mannschaft unsicher gemacht hat und der Hanse stets ein Dorn im Auge war, bis sie ihn schließlich fassen konnten. Jeder, der von seiner Verhaftung gehört hatte, wusste auch, von seiner letzten, unglaublichen Tat.
Als der Henker ihm bereits den Kopf abgeschlagen hatte, stand er auf und schritt an seinen aufgereihten Kameraden vorbei, um einen nach dem anderen aus den Fängen der Hanse zu befreien.

Oder aber der Pirat Blackbeard, der in der Karibik sein Unwesen trieb und als schlimmster Genosse seiner Zeit gilt. Es hieß er habe sich stets den gezwirbelten Schnurrbart angezündet bevor er ein Boot enterte, um seinen Gegnern Angst zu machen. Erst nach fünf Pistolenschüssen und unzähligen Schwerthieben, soll er schlussendlich seinen Feinden, in seiner letzten Schlacht, erlegen sein.

Aber auch die Wikinger haben ihre Spuren in der Seefahrt hinterlassen, so war es doch Leif Erikson, der schon vor Columbus den Amerikanischen Kontinent, weit entfernt von der Skandinavischen Heimat, entdeckt und besiedelt hatte.

All diese Männer waren durch ihre – guten oder schlechten – Taten in die Geschichte der Seefahrt eingegangen und haben ihre Entwicklung auf ihre Weise voran getrieben.
Und auch er sah bereits eine große Zukunft vor sich.
Eine Durchquerung der Meere, eine Weltumseglung, ja das waren erstrebenswerte Ziele. Er packte das Steuerrad fester und stellte sich bereits vor, wie er mit einem noch größeren Schiff in seinem Heimathafen einlief.
Unter ihm am Kai waren die Menschen versammelt, von oben nur als kleine Farbtupfer erkennbar, aber wie einst in den alten Filmen würden sie ihm mit ihren weißen Taschentüchern zuwinken und ihn mit lauten Rufen bejubeln und begrüßen.

„Klaus! Klaus!“, hörte er die Menge bereits aus der Ferne.
„Klaus, hör auf zu Tagträumen und konzentrier‘ dich auf den Kurs!“, raunzte ihn eine Stimme von der Seite an und riss ihn abrupt aus seinen Gedanken.
Er schüttelte kurz seinen Kopf, um sich klar zu werden, dass er nicht auf dem großen Schiff war und blickte dann den Mann neben ihm an, der ihn mit einem finsteren Blick betrachtete.
„Die erste Segelstunde und schon Hirngespinsten nachjag’n, das is‘ wieder typisch Landratte. Sieh lieber zu, dass du mir das Boot nicht in die Boje rammst!“, tadelte ihn sein Segellehrer.

Mit einer gemurmelten Entschuldigung senkte Klaus leicht seinen Kopf und tat wie ihm geheißen. Es war ihm peinlich so in seine Gedanken versunken gewesen zu sein. Mit einer leichten Drehung des Steuers änderte er minimal die Richtung des Bootes, damit sie so ausreichend Abstand von dem schwimmenden Objekt hatten.

Vielleicht würde er irgendwann einmal die Welt umsegeln, oder auch nur ein größeres Meer befahren als die Ostsee, aber bis dahin musste er erst einmal seinen Segelschein bestehen und da hatte er noch einiges vor sich. Vor allem wenn er schon jetzt einen schlechten ersten Eindruck auf seinen Lehrer hinterlassen hatte.

– 939 Wörter (inkl. Titel)