Adventskalender: Türchen #10

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Die Bibliothek

“Mach die Augen zu”, raunte Nicholas ihr zu.
“Damit ich gegen die nächste Wand laufe?”
Katrin mochte es nicht, wenn sie die Augen schließen sollte. Lieber sah sie ihren Weg direkt vor sich, als sich auf andere zu verlassen.
“Du wirst die Bibliothek nur ein einziges Mal zum ersten Mal sehen. Und es gibt den perfekten Ort dafür. Der liegt aber IN der Bibliothek und du würdest ein ganz anderes Bild von ihr haben, wenn du ganz normal durch die Tür gehst, am Bibliothekar vorbei musst und das alles. Ich habe mir schon oft gewünscht, mich nur einmal dort hinzustellen und einen ersten Blick auf den Raum werfen zu können.”
Er machte keine Anstalten, sie zu drängen oder zu betteln. Katrin war in sein Erzählen versunken und folgte seinen Schritten. Nicholas drehte sich um und grinste sie frech an, während er rückwärts weiter lief.
“Diese Chance kommt nur einmal, Katrin, aber wenn du nicht willst, lass es. Verpass den vielleicht zweitschönsten Anblick der Welt.”
“Und was ist der schönste?”
Sein Grinsen wurde noch breiter. Doch Verlegenheit mischte sich hinein, als seine Wangen rot wurden. Andererseits könnte das auch an den Temperaturen liegen. Katrin blinzelte gegen den beißenden Wind und wünschte sich, ein zweites Paar Socken angezogen zu haben. Überall rauschte und knackte es. Aus dem Stall hörte sie die Rufe der Rentiere.
Nicholas hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Scheinbar gab es keine Fettpfanne, die er auslassen konnte. Seine Ohren glühten und seine Handgelenke pulsierten. Mit den linken Fuß traf er auf die Kante der Treppe und konnte gerade noch stoppen. Schnell wandte er sich um. Das Dorf war sein Zuhause. Er fand hier blind jeden Weg, kannte jedes Versteck und hatte sich doch noch nie so verloren gefühlt.
“In Ordnung”, sagte Katrin hinter ihm und legte ihre Hand in seine. Ein süßes Zittern ging durch seinen Körper und schnell fasste er zu. Er hatte nicht gelogen, gleich würde er Katrin einen seiner Lieblingsorte zeigen. Und er wusste, dass er die Bibliothek nie mehr mit den gleichen Augen sehen würde. Fast wünschte er sich, auch ihn würde jemand führen, so dass er mit ihr diesen Moment einfangen könnte.
Katrin spürte, wie Nicholas sich kurz versteifte, als sie seine Hand ergriff. Sie wollte schon zurückweichen, im Wissen einen der dämlichsten Fehler überhaupt gemacht zu haben, als seine Finger sich um ihre schlossen. Sie atmete tief ein und schloss die Augen. Nicholas gab vorsichtig den Weg vor. “Stufe”, sagte er, “Recht”, “Links”, “Tür”. Das alles hätte sie gar nicht gebraucht. Instinktiv wusste sie, wann sie warten und wo sie den Fuß heben musste. Vielleicht sendete er minimalistische Signale aus, ein Drücken, ein Ziehen, ein leichtes Streifen mit den Fingern über ihren Handrücken. Katrin hätte es nicht sagen können. Doch sie genoss den Klang seiner klaren Stimme genauso wie die sanfte Berührung.

Er öffnete ein große Tür und warme, trockene Luft schlug ihr entgegen. Sie schnappte und spürte sofort den Schweiß in ihrem Gesicht. Nicholas ließ kurz ihre Hand los und sie war verloren. Sollte sie die Augen öffnen und ihn am Ende enttäuschen? Oder vertrauen? Da war er schon wieder bei ihr, der kühle Zug in ihrem Rücken ließ nach und er half ihr aus der Jacke. Schon fühlte sie wieder seine Finger, die sich unsicher an ihre schmiegten.
“Komm”, flüsterte er und zog sie mit sich. Katrin suchte nach dem typischen Geruch von staubigen Büchern und Poliermittel, doch er war nicht da. Es roch nach frisch gedruckter Zeitung, frisch gepresstem Papier, und eine makellos saubere Luft hieß sie willkommen. Sie musste sich beherrschen, nicht die Augen zu öffnen, und nachzusehen, was in dieser Bibliothek vor sich ging.
Es war auch nicht mucksmäuschenstill, wie sie es erwartet hätte. Getuschel, dass sie nervös machte, ein Ruckeln, wie von einer Maschine. Doch Nicholas zog sie weiter und die Geräusche blieben zurück. Er führte sie durch Gänge und über Treppen, unter ihren Füßen knarrte der Holzboden und plötzlich hörte sie das leise Knautschen von Teppich. Sie war so versunken in die Gerüche und Geräusche, dass sie nicht auf Nicholas achtete. Sie prallte auf ihn, spürte seine Brust an ihrer Wange, sein Herz klopfte dagegen. Die Vibration vermischte sich mit ihrer eigenen Nervösität und sofort erstarrte sie.
“Ich nehme an, wir sind da”, krächzte sie leise und hörte sein warmes Lachen. Er griff ihre Schulter und drehte sie um. Die Wärme seines Körpers im Rücken hielt Katrin den Atem an. Er umfasste ihre Hände und sein Atem kitzelte in ihrem Nacken. “Jetzt.”

Mit einem neuen Atemzug öffnete Katrin die Augen. “Ach du meine …”
Nicholas hatte sie auf einen Balkon geführt, von wo aus sie auf die abertausende Bücherregale blicken konnte, die scheinbar kein Ende nahmen. Katrin las schon immer gern, aber dass es so viele Bücher gab, wusste nicht einmal sie. Die Regale erstreckten sich mehrere Meter in die Höhe und ihre Breite konnte Katrin nicht einmal ausmachen. Bücher aller Coleur und Größe waren sorgfältig einsortiert.
Katrin beugte sich vor und fasste eine bestuckte Brüstung. An jedem Regal brannten schummrige Lichter, die gemeinsam ein strahlendes Leuchten erzeugten. Ihr gegenüber war ein Gang, mit ebenso einem Balkon, wie der, auf dem sie gerade Stand. Dahinter gingen mehrere Türen ab. In dem Moment öffnete sich eine der Türen, die alle gleichermaßen unscheinbar wirkten. Ein Mann um die fünfzig kam heraus, zwei weitere Bücher im Arm. Er klopfte sich Sand von den Schuhen und sah abrupt auf. Katrin fühlte sich entblößt. Wieder eine Person, die ihr offene Ablehnung entgegen brachte. Aus der Entfernung konnte sie sein Schnauben sehen.
“Dürfen wir hier sein?”, fragte sie und drehte sich um. Nicholas starrte sie an, war aber offensichtlich in Gedanken versunken. Ein verträumtes Lächeln auf seinem Gesicht und das leichte Zucken seines Mundes, als würde er sich Vorstellen, mit jemandem zu reden. Eigentlich hätte sie ihm gern ewig zugesehen. Doch sein Blick fand ihre Augen und er kam zu sich.
“Ähhh.”
“Dürfen wir eigentlich hier sein?”, half sie ihm auf die Sprünge.
“Ja, natürlich. Warum?”
“Da kam eben ein Mann aus der Kammer da drüben und war offensichtlich nicht begeistert, dass wir hier sind.”
Nicholas konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Katrin verdutztes Gesicht machte es nicht besser. Aber woher sollte sie das auch wissen?
“Das ist keine Kammer”, brachte er schließlich hervor und deutete hinter sich.
Auch dort waren Türen, die genauso aussahen, wie die auf dem Gang gegenüber.
“Was dann?” Neugierig ging sie an Nicholas vorbei und geradewegs auf eine der vermeintlichen Kammern zu.
“Das würde ich mir gut überlegen, junge Frau”, hielt eine trockene Stimme sie auf. Sie fuhr herum. Da war er, der Mann von der anderen Seite des Raums. Wie war er so schnell hier her gekommen?
“Du solltest besser auf sie aufpassen”, mahnte der Fremde Nicholas, der immer noch schmunzelte.
“Was ist denn an dieser Tür so gefährlich?”
“Es ist ein Portal”, sagte Nicholas. Er zeigte auf die andere Seite. “Das sind alles Portale.”
“Und warum mussten wir dann in den Wald, statt einfach durch eine Tür zu gehen?” Katrin war fassungslos.
“Weil diese Türen in andere Bibliotheken führen. Genau genommen in alle Bibliotheken, die sind und jemals waren. Aber zurück geht es nur, wenn man genau weiß, wo diese Türen sind.”
Der Fremde wies sie an, ihnen zu folgen und Nicholas gehorchte seufzend. Katrin hätte sich gewünscht, dass er wieder ihre Hand nahm. Gerade fühlte sie sich noch verlorener, als vorhin, als sie nichts gesehen hat.
“Was meinen Sie damit, dass sie auch zu allen Bibliotheken gelangen können, die jemals waren.”
“Was glaubst du, wie wir dein Buch beschafft haben?”
Sie fühlte sich unangenehm ertappt. Ja, was hatte sie gedacht? Dass der Weihnachtsmann eines für sie auf Reserve gehabt hatte?
“Sie meinen, es ist …”
“Ausgeliehen, eingescannt, neugedruckt”, beendete der Fremde ihren Satz und Katrin atmete heimlich auf. Sie kamen die Treppe hinunter und nun erkannte sie, was vorhin so seltsam mechanisch geklungen hatte. Eine Reihe von Druckerpressen arbeiteten fleißig vor sich hin und ein Buch lag links daneben auf einem automatischen Scanner, der sorgfältig umblätterte und eine neue Seite abspeicherte.

“Du darfst Ephraim nicht so ernst nehmen. Er ist gerne mit seinen Bücher für sich. Und wer kann ihm das schon verübeln”, flüsterte Nicholas Katrin zu. Trotzdem blieb das mulmige Gefühl, wieder einen Menschen hier getroffen zu haben, der nur wollte, dass sie schnell wieder verschwand. Dabei musste sie Nicholas recht geben, die Bibliothek war umwerfend schön. Zu gerne hätte sie in ihr gestöbert und auch den ein oder anderen Ausflug durch eine der Türen gemacht.

Nicholas seufzte leise, als er die Jacken holte. So hatte er sich den Ausflug in die Bibliothek nicht vorgestellt. Dass Ephraim, der Bibliothekar, ausgerechnet zurück kommen musste, wenn er Katrin den phänomenalen Ausblick über die Bücherreihen zeigte und dann auch noch so offensichtlich schlechte Laune hatte, war ein weiteres Unglück in diesem unverhofften Besuch. Wieso war das alles so schwer?

“Seien Sie vorsichtig”, murmelte Ephraim neben Katrin.
“Bitte was?” Der Kerl wurde ihr langsam unheimlich.
“Mit Nicholas. Seien Sie vorsichtig.” Er warf einen fast väterlichen Blick in Richtung des Santas, der gerade mit den Mänteln zurückkam und den Blick gesenkt hielt.
Katrin unterdrückte die Hitze, die sich auf ihren Wangen ausbreiten wollte. Gab es da überhaupt etwas, weswegen sie nicht vorsichtig sein musste? So sicher war sie sich da gar nicht.
“Versprochen”, sagte sie trotzdem. Wenn da etwas war, würde sie vorsichtig sein. Es war ein Wunder, das sie unbedingt bewahren wollte.
Er nickte und reichte ihr ein Buch. Sie erkannte es sofort. Es war der dritte Teil einer Reihe, die sie gemocht und aus einer Laune der Natur einfach noch nicht gekauft hatte.
“Woher?”, fragte sie, doch Ephraim lächelte sie zum ersten Mal an und zwinkerte.
“Vielleicht möchtest du noch einmal herkommen.”
“In die Bibliothek?”
Er beugte sich vor und legte den Kopf leicht schief. “Auch”, flüsterte er. Im nächsten Moment legte Nicholas ihren Mantel um sie und Ephraim ging mit einem letzten Zwinkern zurück an seine Arbeit.

Behind the Scenes

Ich sagte doch Eva-Maria Obermann führt uns in einen noch magischeren Ort. Die Bibliothek! Ist sie nicht wunderbar? Als Vorbild sollte das Bibliotheksprinzip der Scheibenwelt von Terry Pratchett gelten und ich finde, das hat sie gut umgesetzt. 🙂
Und auch hier hat sie wieder ihr Talent für tolle Namen spielen lassen, Ephraim passt irgendwie zu diesem doch etwas zauberhaften Bibliothekar und das nicht nur wegen Lessing. 😉

Außerdem gab es hier eine sehr lustige Korrektur, denn Eva beschrieb Nicholas und Katrin ursprünglich als gleichgroß, bis ich sie darauf hinwies, dass Katrin etwas kleiner ist. Das besserte sie dann aus, übersah aber die zweite Hälfte des Satzes, dadurch rutschte Nicholas‘ Herz dann in seinen Bauchraum. Wir haben sehr gelacht. :’D

PoiSonPaiNter

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I’m sorry so far there is no translation of this door

PoiSonPaiNter

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