Wissen ist Macht

„Wissen ist Macht, nichts wissen macht auch nichts“, sagte mir einmal jemand.
Es ist nicht wichtig wer das war, wichtig ist: Ich stand hier vor dem Eingang einer Höhle, die – wenn unsere Nachforschungen wirklich stimmten – den Weg ins sagenumwobene Paradies darstellte! Das Paradies, in dem man den Baum der Erkenntnis finden konnte. Von dem es hieß, dass man nach dem Genuss einer seiner Früchte über unendliches Wissen verfüge.
Eine Gruppe, bestehend aus mir und drei anderen Wissenschaftlern, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den wohl ältesten Mythos unserer Welt zu erforschen. Mein Herz schlug wie wild. Die Nervosität, die sich bereits auf dem Weg hierher unter den anderen breit gemacht hatte, griff nun auch auf mich über. Die Hand, mit der ich die Karte hielt, um noch einmal unsere Position zu überprüfen, zitterte. Ich drückte die Karte noch fester gegen die Höhlenwand. Schneller als es mir lieb war, sog das nicht ganz so wasserfeste Papier die Feuchtigkeit des Mooses ein, das überall am Eingang wuchs. Die halbrunde Öffnung war zum größten Teil mit tropischen Ranken, Moosen und Farnen bewachsen. Für einen Höhleneingang wäre das nichts Ungewöhnliches, würden wir uns nicht mitten in einer Schlucht befinden, die sonst nur aus kargen Felsen bestand und kaum Vegetation aufwies.
„Mensch Jimmy pass doch auf, du zerstört noch die komplette Karte!“, schrie Zack mich an und stieß mich wütend zur Seite.
Er riss mir die Karte aus der Hand, holte zum Schlag aus. Innerlich spürte ich schon die Schmerzen und schloss meine Augen. Doch es passierte nichts. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Zack handgreiflich wurde.
„Reißt euch zusammen Jungs, so kurz vorm Ziel werdet ihr doch wohl nicht die Nerven verlieren!“, hörte ich Arthur sagen.
Arthur war unser Ruhepol. Er war von Anfang an darauf bedacht, dass wir uns nicht gegenseitig an die Kehle gingen. Das zeichnete sich schon bei unserem ersten Treffen ab, denn bereits damals schien Zack mir unsympathisch. Allerdings blieb uns nichts anderes übrig als ihn mitzunehmen, immerhin finanzierte er unsere Forschungsarbeiten. Ihre Blicke trafen sich. Verachtung lag in Zacks Blick, doch Arthur hielt Zacks Arm nur umso fester, sodass dieser nicht zuschlagen konnte.
„Offensichtlich ist das der richtige Eingang, also was fangt ihr an hier Wurzeln zu schlagen? Lasst uns reingehen!“, meinte Thomas aufgeregt und stieß uns weiter in das Innere der Höhle.
Die Vegetation des Einganges setzte sich auch hier fort. Wir stolperten regelrecht über Wurzeln und anderes Grünzeug, da man kaum die Hand vor Augen sah. Nicht einmal unsere Taschenlampen spendeten genügend Licht, um den Tunnel auszuleuchten. Nach gefühlten fünf Stunden wurde es heller und wir erreichten endlich den Ausgang. Vorsichtig trat Thomas als Erster in das gleißende Licht, mit einer Hand zum Schutz vor den Augen.
„Das ist der Wahnsinn! Beeilt euch, das müsst ihr euch ansehen!“, rief Thomas uns aufgeregt entgegen.
So schnell wir konnten liefen wir zu ihm. Der Anblick war unglaublich. Vor uns erstreckte sich ein Wald mit Pflanzen, die ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte, und Tieren, die so ungewöhnlich waren, dass sie Fabelwesen hätten sein können. Ich glaubte sogar, ein Einhorn zwischen den Büschen zu erkennen.
Thomas war von der Gegend vollauf begeistert und rannte los, um sich alles anzusehen. Wir mussten uns beeilen, um mit ihm Schritt halten zu können. Da Thomas einfach nicht langsamer werden wollte, hatten wir selbst kaum Zeit, uns gründlich umzusehen. So schnell wie er losgerannt war, so abrupt blieb er nun stehen. Direkt vor einem riesigen Baum, dessen Krone bis an die Höhlendecke reichte. Die Farbenpracht der Früchte, die auf seinen Ästen ruhten, füllte alles aus, was zwischen blutrot und kanariengelb lag.
„Wenn es das ist was ich denke, dann sind wir angekommen. Gut gemacht Thomas!“, lobte Arthur ihn.
„Mit deinem Wahn hast du die Suche um einiges verkürzt!“, meinte Zack und fügte hinzu: „Deswegen darfst du jetzt auch auf das Teil rauf klettern und ein paar Früchte runter holen!“
„Was meint ihr, welche sind die Reifen?“, warf ich ein.
„Ich denke die Orangefarbenen, also was stehst du hier noch rum, pflück welche!“, befahl Zack.
Thomas tat wie ihm geheißen, er hatte schon zu viele Auseinandersetzungen mit Zack erlebt, als dass er sich widersetzen würde. Umständlich kletterte er am Baumstamm hoch und warf uns einige Früchte hinunter. Vorsichtig stieg er dann selbst wieder hinab.
„Wo wir schon dabei sind: koste!“, Zack hielt Thomas eine Frucht und sein Messer hin.
„Spinnst du? Wir wollten doch erst untersuchen was sie bewirken!“, ich stellte mich Zack in den Weg.
„Du willst sie untersuchen? Dann lass ihn probieren, dann wissen wir was geschieht!“, entgegnete er scharf und stieß mich beiseite.
Thomas war von der Situation vollkommen überfordert. Sein Blick wanderte von Zack zu mir. Ich konnte fast schon Panik in seinen Augen erkennen, als Zack ihm ein Stück Frucht direkt vor die Nase hielt. Ihm blieb nichts anderes übrig als es zu nehmen. Zögerlich biss er hinein. Wir starrten ihn an und warteten auf eine Reaktion.
„Siehst du, nichts passiert. Das ist schlicht und einfach komisches Obst!“
Gerade als Zack ebenfalls einen Bissen nehmen wollte, brach Thomas schreiend zusammen.
„Was ist los? Thomas ist alles in Ordnung?“
„Nein, ist es nicht!“, schrie er Arthur an. „Ich höre eure Gedanken! Hört auf zu denken! Seid doch endlich still!“
Er warf sich auf dem Boden hin und her und presste seine Hände auf die Ohren.
Thomas drehte völlig durch. Er schrie wie am Spieß und schlug wild um sich. Das war also das Wissen, das man erlangen konnte. Das Wissen anderer aus ihren Gedanken.
„Siehst du was du angerichtet hast?“, schrie ich Zack an.
„Was denn? Selbst schuld, er hätte es ja nicht essen müssen!“, antwortete er kühl.
„Er hätte es nicht essen müssen?!“
Wütend packte ich Zack am Kragen und schüttelte ihn, doch er lachte nur. Es war ihm vollkommen egal, was mit den Menschen in seiner Umgebung geschah. Währenddessen stand Thomas auf und rannte erneut wie von der Tarantel gestochen davon. Ziellos wie es schien, doch plötzlich endete sein irrer Lauf. Thomas stand still. Das gewundene Horn eines schwarzen Einhorns hatte sich mitten durch sein Herz gebohrt. Ich hielt den Atem an. Arthur rannte zu ihm. Das Tier streifte Thomas einfach ab. Wie eine Puppe landete er leblos auf dem Boden. Ich konnte nicht glauben, was gerade geschehen war. Thomas konnte nicht tot sein. Ist es ein so grausames Gefühl, das ganze Wissen der Welt in wenigen Sekunden zu erfahren? Es hatte den Armen um den Verstand gebracht. War es das wert? Zack lachte noch immer. Ich drehte mich nach ihm um, warf ihn zu Boden und prügelte auf ihn ein. Meine ganze Wut ließ ich an ihm aus. Es war seine Schuld das Thomas tot war, allein seine. Arthur packte mich von hinten und zerrte mich von Zack herunter.
„Du Scheißkerl!“, schrie ich und versuchte mich aus Arthurs Griff zu befreien.
„James! James hör auf! Er ist tot!“
Schlagartig beruhigte ich mich.
„Was?“, entsetzt über meine Tat starrte ich Arthur an.
„Du hast ihm das Genick gebrochen als du ihn auf die Wurzel gestoßen hast. Diese ganze Reise hat nur Unglück über uns gebracht! Erst verliert Thomas den Verstand, dann das. Jetzt verstehe ich, warum dieser Eingang – dieser Ort so verborgen war und es auch für immer bleiben sollte! Das beste was wir tun können, ist die Karte und unsere gesamten Aufzeichnungen zu vernichten, damit niemand anderes mehr den Weg hierher findet, damit nicht noch mehr Menschen sterben müssen. Allwissenheit ist nun einmal nicht für Menschen bestimmt. Schon die Bibel zeigte, dass es besser ist der Versuchung zu widerstehen von diesem Baum zu essen. Wir sollten uns das Wissen Stück für Stück aneignen und nicht nach göttlichem Obst suchen, das uns die Arbeit abnimmt!“
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