Daily Archives: 14. Juli 2019

Akazukin-chan und der Große Böse Wolf

Nachdem er uns schon die Mär von Chen und der Geschichte eines Brüderpaars erzählte, widmet sich Hannes Laumeier einem weiteren Thema im Märchensommer.

Das Märchensommer Banner zeigt eine Scherenschnitt-Fee, die Glitzer auf den verschnörkelten Schriftzug "Märchensommer" über einem aufgeschlagenen Buch streut. Alles vor einer grünen Wiese neben einem Baum und Sonnenstrahlen im Hintergrund.

Deutsche Märchen in japanischen Comics

Wenn ich das Wort „Märchen“ höre, denke ich zuerst an Schneewittchen, Rotkäppchen und die Sieben Geißlein. Das Bild in meinem Kopf ist ein Amalgam kreiert von den Grimms und Disney. Als zweites denke ich an Mangas.
Es ist kein Geheimnis, dass die deutsche Kultur ihre eigene Faszination auf Japan ausübt und so gibt es für uns vertraute Motive in japanischer Kunst, unter anderem deutsche (oder gemeinhin so gedachte) Märchen in Mangas. Als zwei typische Beispiele dieses internationalen Kulturaustausches sehen wir uns an: Grimms Manga von Kei Ishiyama und Ludwig Revolution von Kaori Yuki.

Ludwig Revolution erschien von 1999 bis 2007 in verschiedenen japanischen Manga-Magazinen. Die Handlung ist kurz erklärt: Prinz Ludwig, kurz Lui, muss auf Anordnungen seines Vaters eine Braut finden, also reist er durch die Lande und durch die Grimm‘schen Märchen. Der Manga kommt aus der Feder Kaori Yukis und das sollte den Ton dieser Märchenadaption bereits deutlich machen. Sie ist bekannt für ihren düsteren Stil, der stark von der Gothic- und Lolita-Szene inspiriert ist.
Das passt nicht zu Märchen? Au contraire!

Mittlerweile hat sicherlich jeder von dem Freund mit der Neigung zur Besserwisserei gehört, dass so manches Grimm‘sche Märchen eine viel düstere Geschichte ist, als es uns Disney vormachen will. Beispielsweise schneiden sich die Schwestern Aschenputtels ihre Zehen ab, um in den lieblichen Schuh zu passen. Allerdings treibt Kaori Yuki diese düsteren Elemente noch weiter an. In ihrem Manga geht Rotkäppchens Märchen wie folgt:

Lisette trägt eine graue Kappe und ist seit Kindesbeinen mit Prinz Luis Diener befreundet. Eines Tages trägt die Mutter ihr auf, Kuchen und Wein zur Oma zu bringen, die im Wald wohnt. Wie üblich wird vor dem bösen Wolf gewarnt. Als Lisette im Wald an eine Kreuzung kommt, weiß sie nicht – anders als der Leser – dass jemand den Wegweiser manipulierte und sie geht nichts ahnend in die falsche Richtung. Sie kommt an der verkohlten Ruine eines Hauses an und glaubt, dass die Leiche dort ihre Oma ist. Dann taucht ein Wolf vor ihr auf und erklärt, die Oma und Lisette seien Opferungen an den Wolfsgeist, damit die Eltern einen Haufen Gold erhalten können. Man kann sich den Zorn und Schmerz in Rotkäppchen vorstellen. Sie rennt nach Hause.

Zuhause sitzen ihre Eltern beim Essen und sorgen sich um Lisette, die ziemlich spät dran ist. Sie wissen von dem verbrannten Haus, denn was die Geschwister Hänsel und Gretel vor kurzem dort anstellten, ist in allen umliegenden Dörfern bekannt. Lisette erreicht endlich ihr Elternhaus und von Zorn geblendet tötet sie ihre Eltern mit einer Axt.

Des Prinzen Diener, genannt Will, tritt ein und sieht die Leichen und das ganze Blut überall. Auch die eigentlich graue Kappe des Mädchens ist in Blut getränkt und leuchtet nun Rot. Natürlich ist er schockiert. Lisette eröffnet ihm, dass jeder im Dorf die Gutmütigkeit des lieben Wills ausnutzt und mit hässlichen Worten lässt sie ihren Zorn auch an ihm aus. Sie versucht auch ihn zu töten, aber Prinz Lui geht dazwischen und rettet Will das Leben.

So klingt die Geschichte Rotkäppchens bereits äußerst düster, aber es gibt einen kleinen Twist in der Sache: Prinz Lui hat Lisette absichtlich zum falschen Haus gelockt und ihr mit Hilfe einer Attrappe diese Lügengeschichte erzählt. Ihre Eltern hatten den Tod, und solch einen brutalen dazu, nicht verdient.

Nachdem sie ihre Eltern tötete und das Dorf verließ, wird Lisette zu einer Auftragsmörderin mit einem Rachefeldzug gegen Prinz Lui, den sie abgrundtief hasst. Es ist offensichtlich, warum.
Dies ist nur ein kleiner Einblick in die Märchenwelt von Kaori Yuki, wo die Geschichten makaber und die Figuren abstoßend sind. Weitere Beispiele:

  • Prinz Ludwig ist selbstsüchtig und sexistisch. Im ersten Kapitel wird er als nekrophil vorgestellt und stellt in seinen privaten Räumen dutzende schöne, aber tote Frauenkörper aus.
  • Schneewittchen spannt ihrer (hier leiblichen) Mutter den Ehemann, also ihren eigenen Vater, und außerdem auch den Liebhaber aus, dann täuscht sie ihren eigenen Tod vor, um ihre Mutter in den Selbstmord zu treiben und das Königreich an sich zu bringen.
  • Dornröschen ist eine naive und egozentrische Zauberin, die sich von einer Geliebten des Königs belügen lässt und sich in Selbstmitleid gramt, weil ihr Schönheit und Intelligenz in die Wiege gelegt (oder gezaubert) wurden. Deswegen verdammt sie ihr ganzes Königreich in einen tiefen Schlaf, der schlussendlich alle Untertanen und sie selbst tötet.
  • König Blaubart ist ein Torfkopf und blind für die Wahrheit, dass er seine große Liebe aus falschem Stolz tötete und nun jede seiner anderen Frauen an einem falschem Maßstab misst. Für ihr Scheitern, das er selbst für die Frauen heraufbeschwört, muss er sie töten. Erneut eine Ausstellung toter Frauenkörper.

Und genauso geht es mit vielen anderen Märchen weiter. Ludwig Revolution hat vier Bände und erzählt zwölf dunkle Geschichten. Dies hier sind definitiv keine Kindermärchen mehr, aber dann waren die ursprünglichen Geschichten auch nicht immer jugendfrei.

Auf der anderen Seite des Spektrums japanischer Unterhaltungskunst haben wir Grimms Manga von Kei Ishiyama, in Japan erschienen 2007. Ishiyama hat einen fröhlicheren und leichteren Ansatz für eine moderne Interpretation der uns bekannten Märchen. Ihr Zeichenstil ist niedlich und romantisch.
Die Märchen werden nicht mit einer übergeordneten Handlung verbunden, sondern stehen für sich selbst als eine Reihe von Kurzgeschichten und in dem Sinne ist dies hier der Grimm‘schen Sammlung ähnlicher als unser Beispiel zuvor.
Als Vergleich Ishiyamas Version des Märchens Rotkäppchen:

Um ein wahrer Wolf zu werden muss Wölfchen eine menschliche Jungfrau fressen. Unsicher, was das genau bedeuten soll, beratschlagt er sich mit den Sieben Geißlein, aber Waldtiere haben ihre eigenen Sorgen. Sie warnen das Wölfchen vor dem Jäger.

Im Wald begegnet er zufällig Rotkäppchen und verliebt sich sofort in sie. Unbedarft erzählt sie von ihrer Oma und dass sie ihr Kuchen bringen will. Nervös über seine plötzlichen Gefühle rennt Wölfchen davon. Er läuft zum Haus der Oma. Mit einem Eimer auf dem Kopf, um seine Wolfsohren zu verstecken, hilft er der Oma mit dem Feuerholz und Kamin. Gemeinsam warten sie darauf, dass Rotkäppchen ankommt.
Allerdings bringt Rotkäppchen, unbedarft wie sie ist, den Jäger mit. Natürlich erkennt dieser sofort, dass der Junge mit dem Eimer auf dem Kopf gar kein Mensch ist und will ihn erschießen. Doch Rotkäppchen geht dazwischen und sagt einen sehr klugen Satz: „Jeder hat Angst, wenn man mit dem Gewehr auf ihn zielt.“ Das Wölfchen macht ihr daraufhin einen Heiratsantrag und mit den Worten, sie könnten zuerst Freunde werden, nimmt sie diesen irgendwie an.

Zum Abschluss sehen wir beide ein paar Jahre später als Jugendliche wieder, wo Wölfchen sie vor übergriffigen Männern beschützt. Ob er nun ein wahrer Wolf ist oder nicht, ist ihm nicht mehr wichtig, denn er hat nun jemanden, den er beschützen will. Gemeinsam spielt das Paar in einer Blumenwiese.

In dieser Geschichte gibt es keinen Twist oder doppelten Boden. Die Romantik zwischen Wölfchen und Rotkäppchen ist ehrlich und der kurze dramatische Ausflug mit dem Jäger ist verständlich und schnell behoben. Niemand kommt zu Schaden, niemand wird hinters Licht geführt. (Wölfchens Eimer, um seine Ohren zu verstecken, hat niemand geglaubt.)
Ebenso die anderen Geschichten bleiben dramatisch, aber friedvoll. Rapunzel ist hier zwar ein Mann, aber er singt gerne und freut sich, eine Familie zu gründen. Hänsel ist eingebildet und narzisstisch, aber wie wichtig Familie ist, weiß er auch ohne Mordkomplott. Die Figuren bei Ishiyama sind grundsätzlich Gut in ihrem Herzen und ihre menschlichen Fehler machen sie liebenswert. Auch gibt es hier die berühmte Moral von der Geschicht‘, die man Kindern gerne erzählt:

  • Rotkäppchen lehrt uns, dass nicht alles ein böser Wolf ist, selbst wenn es so aussieht.
  • Rapunzel lehrt uns, dass man niemals die Hoffnung aufgeben sollte, selbst wenn die Situation aussichtslos ist.
  • Hänsel und Gretel lehren uns, dass Familie wichtiger ist als Macht und Reichtum.
  • Die Zwölf Jäger lehren uns, dass wahre Liebe immer gewinnt und ähnlich erbauliche Lektionen in weite mit niedlicher Romantik und einer Spur fröhlichen Humors.

Diese Märchen sagen zwar nicht die Zauberformel, aber sie fühlen sich so an: sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage.

Diese Adaption hält sich mehr an den Geist der Grimm‘schen Märchensammlung, die kinderfreundlich und lehrreich sein wollte.

Es gibt noch zahlreiche andere Adaptionen der Grimm‘schen Märchen und anderen Geschichten dieser Art in japanischen Comics. Meist pendeln sie zwischen diesen beiden Extremen: Entweder sie sind düster und gruselig, es fließt viel Blut und psychische Angriffe sind so weit verbreitete wie physische. Oder die Mangas sind romantisch und lustig, mit süßen Zeichnungen und einem wahren Happy End. In allen Fällen sieht man die alten Geschichten in einem neuen Licht.

Der Gastautor:

In Greifswald studierte Hannes Laumeier Sprachwissenschaft und trat mit dem Autorenverein GUStAV zu Lesungen auf. Das Publikum lachte, weinte und staunte mit seinen Kurzgeschichten. Er schreibt von Problemen der Liebe und des Alltags, von Mythen, Magie und Tod, von fremden Kulturen und Sprachen. Sein Lieblingszitat ist: „Habe keine Angst vor der Perfektion: du wirst sie nie erreichen.“ (Salvador Dalí)

Homepage: Tintenlöwe
Twitter: Ingenius11

Anne/PoiSonPaiNter