Im Rahmen des Märchensommers beschäftigt sich Gastautorin Katherina „Evanesca“ Ushachov mit Russischen Märchen.
Jedes Alter hat seinen Zauber. Und ich muss gestehen, es ist durchaus interessant, gerade mit sechs Jahren aus der Ukraine nach Deutschland ausgewandert zu sein – denn zumindest in der Ukraine war ich ein reines Vorlesekind. In Deutschland lernte ich lesen – und las folglich selbst.
Die nach wie vor beliebteste Vorleselektüre für kleine Kinder? Märchen. Und entsprechend viele Märchenbücher besitze ich, die noch aus meiner Kindheit stammen.
Die Geschichte russischer Märchen und ihrer Sammler
Es gibt zwei russische Märchensammler, die eine ähnliche Rolle erfüllen wie die Brüder Grimm im deutschsprachigen Raum – Alexander Nikolajewitsch Afanassjew und Wladimir Iwanowitsch Dal.
Afanassjew sammelte schon in seiner Jugend alte und wertvolle Handschriften, um die russische Kultur zu untersuchen. Unter anderem publizierte er eine Untersuchung über den Glauben der Bevölkerung an kleine Hausgeister – Einzahl Domovoi – welche vermutlich mit den Wichtelmännchen verwandt sind und mit Lebensmittelgaben abgehalten werden sollen, Schabernack zu treiben und eine Abhandlung über die heidnische Herkunft der in Märchen oft vorkommenden Bujan-Insel. 1860 veröffentlichte er eine Sammlung von 33 Geschichten über Jesus und einige Heilige, wie sie im Volk erzählt wurden – da sie jedoch der kirchlichen Lehrmeinung widersprachen, wurde die Sammlung verboten. Eine weitere, die neben Heiligenlegenden auch erotische Geschichten enthielt, ließ er darum gleich im europäischen Ausland drucken.
Diese Märchensammlungen waren also noch rein analytisch-forschender Natur und dienten nicht als Kinderliteratur. Erst 1870 veröffentlichte er mit „Русские детские сказки“* – „Russische Kindermärchen“ – eine Ausgabe für Kinder, die auch im Ausland vertrieben wurde. Mit „Русские заветные сказки“ – „Russische Sehnsuchtsmärchen“ – veröffentlichte er in Genf eine weitere Ausgabe erotischer Märchen. Sie durfte erst 1997 in Russland erscheinen.
Eine meiner Kindermärchensammlung ist „nach Afanassjew“, wie vollständig oder überarbeitet sie ist, ist bei einer Ausgabe aus der Sowjetunion schwer festzustellen. Seine Sammlung ist die größte Sammlung an Märchen und Mythen im russischsprachigen Raum.
Dal veröffentlichte seine Märchensammlung schon 1832 unter dem viel zu langen Namen „Русские сказки из предания народного изустного на грамоту гражданскую переложенные, к быту житейскому приноровленные и поговорками ходячими разукрашенные Казаком Владимиром Луганским. Пяток первый“ – „Russische Märchen aus mündlicher Überlieferung übertragen für die bürgerliche Bildung, mit Geschichten aus dem Alltag und gängigen Redewendungen geschmückt vom Kosaken Vladimir Luganski. Erster Band.“ Die Märchensammlung mit dem sperrigen Namen wurde als Äquivalent einer Doktorarbeit anerkannt und brachte dem Sammler einen Doktor der Philologie und einen Lehrstuhl ein. Er beherrschte 12 Sprachen und gilt inzwischen dank seiner Beherrschung der türkischen Sprachen und seinem Wissen über die Kulturen als einer der ersten Turkologen.
Er kannte Puschkin – der wiederum Kunstmärchen verfasste, die auf volkstümlichen Motiven beruhten. Puschkin schenkte ihm eine Ausgabe seines damals neuesten Märchens und die beiden blieben bis zu seinem Tod befreundet.
Auch die Märchen, die er zwar gesammelt, aber vor seinem Tod nicht mehr kategorisiert hatte, übergab er – an Afanassjew.
Ähnlich wie die Brüder Grimm, verfasste er ein extensives Wörterbuch der „lebenden, großrussischen Sprache“, wobei er unter anderem Neologismen der Wissenschaftssprachen durch eigene Ableitungen aus dem Altslawischen ersetzte und diese – obwohl sie außer ihm niemandem bekannt waren – in sein Wörterbuch übernahm. Trotz dieser und anderer Mängel – anders als die Brüder Grimm hat er weder linguistisches noch etymologisches Wissen besessen – gehört es immer noch zum Standardwerk der Forschung.
Daneben gab es auch mehrere Autoren von Kunstmärchen in oft gereimter Form, der Bekannteste ist Alexander Sergejewitsch Puschkin, Autor von einem Zyklus aus sieben Kunstmärchen, die zwischen 1825 und 1837 entstanden und teilweise auf volkstümliche Erzählungen zurückgehen.
Auffällige Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Die drei berühmtesten Akteure der russischen Märchengeschichte haben ungefähr zeitgleich mit den Brüdern Grimm gewirkt und zumindest die zwei russischen Märchensammler waren ebenfalls in erster Linie als Forscher tätig. Der große Märchenboom ging auch in Russland mit einem verstärkten Interesse an der eigenen Abstammung und der nationalstaatlichen Identität in Abgrenzung zu anderen Nationalstaaten einher. Somit kann man die Arbeit der hier genannten Märchen- und Folkloreforscher als identitätsbildend einstufen.
Ein interessanter Unterschied, auf den ich erst durch den ebenfalls hier publizierten Gastartikel „Die Mär vom Chen“ gekommen bin, ist: Haben in den deutschen Märchen viele Figuren keinen Namen, von Ausnahmen wie „Hänsel und Gretel“ einmal abgesehen, sind die meisten Menschenfiguren russischer Märchen eindeutig benannt. Meist handelt es sich um Allerweltsnamen. So heißt in der Regel der jüngste Bruder Ivan – und ist er zusätzlich nicht der Hellste, dann – Ivanushka der Dummkopf. Es heißt auch nicht einfach „die Hexe“, sondern konkret Baba Jaga, nicht „der unsterbliche Hexenmeister“, sondern Koschschei der Unsterbliche. Nicht „die schöne, zauberkundige Schildmaid“, sondern Marja Morewna etc. Ausnahmen bilden Gattungsnamen wie „der Wassermann“ oder Titel wie „die Froschkönigin“, die allerdings im Märchen selbst nie so genannt wird.
Dadurch entsteht ein interessanter Effekt eines geteilten Universums – man könnte theoretisch die liebste Version eines Märchens nehmen und die jeweiligen Geschichten dann in eine Reihenfolge bringen. Denn die meisten Märchenfiguren wie Baba Jaga kommen mehrmals vor – mal in guten mal in bösen Rollen – und man könnte daraus eine fortlaufende Story machen. Die Grimm’schen Märchen dagegen stehen in der Regel alleine für sich selbst. Wenn in mehreren Märchen Hexen vorkommen, so sind sie nicht miteinander identisch.
Bei den Namen für die Menschen handelt es sich ähnlich wie im Deutschen ebenfalls meist um die Verniedlichungsformen. Der Titel der russischen Version von „Brüderchen und Schwesterchen“ heißt „Schwesterchen Aljonuschka und Brüderchen Ivanushka“ – die Geschwister heißen also Elena und Ivan. Auch heute noch im russischen Sprachraum sehr beliebte Namen. Eine russische Form von „Die Schöne und das Biest“ heißt „Alenkij Zvetochek“, das rötliche Blümchen – hier wird sowohl das Adjektiv als auch das zugehörige Substantiv in den Dimminutiv gesetzt.
Zu den gesammelten russischen Märchen gehören unzählige Tiermärchen, die keine Fabeln sind und bei denen bestimmte Tiergruppen besonders häufig vorkommen. Die Gruppe aus Fuchs-Wolf, Huhn-Fuchs, Fuchs-Hase-Hahn ist dabei besonders häufig, oft tritt auch nur der Fuchs auf. Seltener kommen Bären vor. Anders als in Fabeln haben die Tiere keine festen Rollen – so gibt es Märchen, in denen der Fuchs positiv besetzt ist und Märchen, in denen Raub- und Friedtiere einträchtig zusammen leben, solange bestimmte Regeln eingehalten werden.
Teilweise gingen auch russische Sagen in die Märchensammlungen ein, wie die Geschichte von Ilja Muromez oder der Epos von „Ersche Erschovitch“, der zum ersten Mal im ausgehenden sechzehnten oder beginnendem siebzehnten Jahrhundert zum ersten Mal aufgeschrieben wurde.
Auch ist Magie nicht immer negativ besetzt – neben dem Nekromanten Koschtschei und der Hexe Baba Jaga ist auch die positiv besetzte Marja Morevna zauberkundig. Oft haben außerdem in Tiere verwandelte Menschen ihre eigenen Zauberkräfte.
Fazit
Vermutlich über Ländergrenzen hinweg entstand das Interesse an Märchen im Zuge der Wiedererstarkung eines Nationalstaatsgedanken im neunzehnten Jahrhundert, auch wenn Märchen Jahrhunderte vorher schon für ein erwachsenes Publikum geschrieben und von diesem rezipiert wurden.
Russische Märchen bieten neben den schillernden Geschichten ihrer Autoren und Sammler wunderbare, spannende und bisweilen für westliche Leser*innen skurril anmutende Stoffe in einem großen Märchenversum.
* Sämtliche Übersetzungen russischer Buchtitel stammen von mir. Es handelt sich NICHT um die offiziellen Buchtitel.
Die Gastautorin:
Katherina Ushachov zog im Alter von sechs Jahren aus dem sonnigen Odessa nach Deutschland. Zwanzig Jahre später machte sie Vorarlberg zur neuen Wahlheimat. Sie schreibt seit der Schulzeit, weil sie ohne das Schreiben nicht mehr leben kann. Wenn die freie Lektorin nicht gerade an einem ihrer Romane arbeitet, textet sie für mehrere gemeinschaftlich geführte Blogs oder erzählt auf ihrer Homepage vom Alltag als junge Autorin.
Homepage: Keller im 3. Stock
Lektorat: Phoenixlektorat
Weltenbau: Weltenschmiede
Facebook: Katherina Ushachov – Autorin
Twitter: @evanesca
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The history of Russian fairy tales and their collectors
As part of the Fairy Tale Summer guest authoress Katherina „Evanesca“ Ushachov talks about Russian Fairy Tales.
Every age has its magic moments and I admit, it was fairly interesting to be six years old when I left Ukraine for Germany. Being too young to attend school and too lazy to read myself (despite knowing all those Cyrillic letters well enough) I preferred to have my books being read to me. Something that changed in Germany, when the very first thing I did was to attend school and to finally start reading on my own.
Thus, my early childhood was shaped by people reading books to me. And what’s the most popular reading topic for young children? Exactly. So it didn’t come to me as a surprise that I own no less than ten or twelve books full of Fairy Tales – both Russian ones and the world’s classics translated into Russian, of course.
The history of Russian Fairy Tales and their collectors
Two Russian collectors of Fairy Tales were as important to Russian literature as the brothers Grimm where to German language area: Alexander Nikolajewitsch Afanassjew and Wladimir Iwanowitsch Dal.
Afanassjew has been into old books and valuable manuscripts since he was young, always taking interest in studying Russian culture. Among other works on folkloristic issues, he published an essay on the beliefs of the common people in some kind of Russian imps – Domovoi – little people that are said to be appeased by food offerings, otherwise they might wreak havoc on a household. He also wrote on the heathen origins of the Bujan island – a magical place, where many Fairy Tales are taking place.
In 1860, he published his first collection of folkloristic tales – 33 stories about Jesus and some saints, as people told them by their fireplaces in the evenings. The book was banned, as some of the stories contradicted the official versions of events as proclaimed by the Russian Orthodox Church of his time. Fearing the same fate for a collection containing both stories about saints and erotic tales, he had that one printed in Switzerland to prevent prosecution.
Those collections were not intended for children at all – they served a scholarly purpose for the investigator of what was seen as folkloristic. It was not before 1870, that Afanassjew decided to publish “Русские детские сказки“* – „Russian Fairy Tales for children“ – a collection intended for a young audience which was printed throughout Europe. With a tome named “Русские заветные сказки“ – „Russian Fairy Tales of desire” – he published another collection of erotic tales, having them printed in Geneva. They didn’t issue in Russia till 1997.
I actually own a collection of his Fairy Tales for children “based on Afanassjew”, though it’s hard to tell whether it was abridged or whether some tales where revised, since it was printed in the Soviet Union.
To this day, Afanassjews collection of Fairy Tales and myths is the largest of it’s kind in the Russian speaking world.
Dal published his collection in 1832, using a title that is much too long for modern readers: “Русские сказки из предания народного изустного на грамоту гражданскую переложенные, к быту житейскому приноровленные и поговорками ходячими разукрашенные Казаком Владимиром Луганским. Пяток первый“ – “Russian Fairy Tales from oral traditions, recorded for civil education, adorned by stories of the daily life and popular idioms by the Cossack Vladimir Luganski. Tome one.” The collection of Fairy Tales was acknowledged as a dissertation and earned Dal a doctor’s degree in philology, an obligation to teach including. He knew 12 languages and is renown as one of the first worlds Turcologist for his proficiency in Turk languages and his vast knowledge on the culture of the various Turc peoples.
He was acquainted to Puschkin – a poet who wrote Fairy Tales himself, though he based them on folkloristic tales. The poet gave Dal a copy of his newest Fairy Tale as a gift and they stayed close friends till the untimely death of the young poet.
Dal himself passed his collection of Fairy Tales on to Afanassjew, when he realised he wouldn’t be able to classify them before his death.
Like the brothers Grimm, he compiled an extensive dictionary of the „living, great Russian language“, including some droll formations of his own invention: He omitted loan words from academic discourses, substituting them for derivations from old Slavic roots of his own invention and putting them into his dictionary. Unlike the brothers Grimm, he didn’t possess their vast knowledge on linguistics and etymology and his cute neologisms are not the only flaws of his dictionary, it’s a standard reference for every Slavicist to this day.
As mentioned beforehand, Russia also had it’s authors of original Fairy Tales. The most renown is Alexander Sergejewitsch Puschkin, author of a cycle of seven rhyming Fairy Tales, published between 1825 and 1837 and based on oral traditions.
Striking similarities and interesting differences
The three most famous agents of the history of Russian Fairy Tales created their respective work at the same time as the Brothers Grimm and the two collectors in this article where – like the German brothers – scholars. As in Germany, the growing interest in Fairy Tales coincided with a growing interest in some kind of common heritage and the Russian national identity. The research of both groups of scholars can thus be seen as an attempt at strengthening the cultural identity of their respective home countries.
A difference that would not have occurred to me without the other guest article “The Tale of Chen” is the Russian tendency towards giving their Fairy Tale characters distinctive names. While only few German Fairy Tale characters have a name at all (Hansel and Gretel being the only example that comes to my mind, while not counting in Schneewittchen or Snowwhite/Aschenputtel or Cinderella for not being real names and Rapunzel for being a French tale in the first place) and most go by “the witch”, “the small girl” or “the prince”, Russian characters usually have distinctive names.
Not that they would be too exotic – most names are fairly common, as for example the youngest brother is mostly Ivan. If he’s not only the youngest but also the most stupid, he’s Ivanushka the Stupid.
So in Russian tales, it’s not “the witch”, it’s a particular witch named Baba Jaga and it’s not “the immortal warlock”, it’s Koschschei the Immortal. It’s also not “the beautiful shieldmaiden who can do magic”, it’s Marja Morewna and so on. Generic names are used to refer to beasts like “the water sprite” or titles as in “the frog queen” – though the last ones are never used in the Fairy Tales themselves.
Incidently, that creates a shared universe – it would be perfectly possible to sample the most beloved versions of many Fairy Tales and putting them into an order, creating a continuous story. Most Fairy Tale characters appear in more than one story – Baba Jaga is a good witch in some, evel in other Fairy Tales.
It’s impossible to do the same to the Fairy Tales as collected by the Brothers Grimm. Their Fairy Tales stand on their own and witches from one story are not identical to witches from another.
Russian Fairy Tales like diminutives as much as their German counterparts, though. The Russian version of “Brother and Sister” is called “little sister Aljonushka and little brother Ivanushka” – meaning that the siblings are called Elena and Ivan, names popular to this day. -shka is one of the countless suffixes of endearment in Russian, the change in vowels serving the same purpose. One of the Russian versions of “The beauty and the beast” is called “Alenkij Zvetochek” – hard to translate, as not only the flower is endowed with a suffix of endearment but also the adjective, but basically, it’s the dear little red flower.
A large group of Russian Fairy Tales is constituted by Fairy Tales involving animals, lacking the morals and clear-cut characterisation that would turn them into fables. Most often, the characters in such tales are a fox and a wolf, chicken and a fox or a group consisting of a fox, a rooster and a hare, occasionally only a fox is the protagonist of the Fairy Tales. Bears are rarer. As mentioned above, the animals don’t have clear-cut roles: While the fox is the vile antagonist in some, the animal saves the day in other tales and many stories focus on predators and their prey coexisting peacefully if certain rules are observed.
Some collections also contain Myths like the tale of Ilja Muromez or the epic poem about “Ersche Erschovitch”, having been recorded at the end of the sixteenths century for the first time.
Another interesting difference is the role of magic – it’s not always the tool of the antagonist, most often both good and bad persons have their fair share of using it. The heroine Marja Morevna is capable of it – but so is Baba Jaga the witch and Koschschei the necromancer. People transfigured into animals also often have magic powers of their own.
To sum it up
The interest in Fairy Tales arose across boarders during the increasing wish for a national identity in an age of the rise of national states. Even though Fairy Tales have been always part of human culture and where written and read by adults, Fairy Tales for children became popular during the nineteenth century.
Russian Fairy Tales offer not only remarkable stories about their respective authors and collectors, they also offer suspensive fantasy tails in a shared universe with often bizarre moments for the western reader.
* All translations of Russian book titles were done by me. Those are not the official titles of the books in other languages.
The Guest-Authoress:
Katherina Ushachov moved from the sunny Odessa to Germany at the age of six. Twenty years later she turned Vorarlberg into her new chosen home. She is writing since school times, as she can’t live without writing any more. When the free Copy Editor isn’t working on one of her novels, she writes for several collaboratively lead Blogs or talks about her every day life as young authoress on her homepage.
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Copy Editor: Phoenixlektorat
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